BROSCHÜRE DES BUNDESMINISTERIUMS FÜR BILDUNG UND FRAUEN DAS KIND MIT CEREBRALEN VISUELLEN INFORMATIONSVERARBEITUNGSSTÖRUNGEN - CVI Impressum Medieninhaber und Herausgeber: Bundesministerium für Bildung und Frauen, Abteilung I/5 Freyung 1, 1014 Wien, Mag.a Dominika Raditsch Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind die Autorinnen verantwortlich. Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken. Autorinnen- und Redaktionsteam: Marjolein Dik, Hildegard Gruber, Gertrude Jaritz, Judith Kowal, Margit Mikosch, Birgit Schloffer, Karin Trifinopoulos Koordination: Gertrude Jaritz Layout und Umschlaggestaltung/Endredaktion: Karin Trifinopoulos Michael Trnka, Bundesministerium für Bildung und Frauen, Abteilung I/5 Lektorat: Irma Mathis-Bonmassar, Karin Pammer Fotos: Hildegard Gruber, Gertrude Jaritz, Judith Kowal, Eva Leitner, Birgit Schloffer, Karin Trifinopoulos Bildmaterial Umschlag: http://www.pictoselector.eu/ http://creativecommons.org/ Erscheinungsdatum: Februar 2015 Internetversion: http://www.cisonline.at/foerderschwerpunkte/sehen/ Editorial In den letzten Jahren befassen sich Blinden- und Sehbehindertenpädagog/inn/en aber auch Psycholog/inn/en zunehmend mit Sehproblemen bei Kindern und Jugendlichen, die nicht nur durch eine Schädigung des Sehorgans, sondern durch Störungen der Sehverarbeitung und Wahrnehmung im Gehirn verursacht sind. Das Phänomen, das mit dem Begriff Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörung kurz CVI (im Englischen Cerebral Visual Impairment) bezeichnet wird, rückt dabei immer stärker in den Fokus. Was ist CVI? Was sind Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörungen? Sind Sehprobleme möglich obwohl das Auge und der Sehnerv in Ordnung sind? Wieso kann ein Kind einmal kleinste Dinge sehen und dann wieder nicht? Fragen über Fragen. Der Inhalt der vorliegenden Broschüre soll als Information, Hilfestellung und als Nachschlage- werk dienen, um sowohl allen Pädagog/inn/en und Schulpsycholog/inn/en im österreichischen Schulwesen als auch den betroffenen Erziehungsberechtigten einen Einblick in das Thema CVI zu geben. Diese Broschüre ist in vier Teile gegliedert: Grundlagen, Pädagogik, Neuropsychologie und Augenheilkunde. Die einzelnen Themenbereiche werden aus unterschiedlichen Sichtweisen interdisziplinär dargestellt. Die vorliegende Publikation versteht sich als ein erster Schritt, um allen Schülerinnen und Schülern mit einer Cerebralen Visuellen Informationsverarbeitungsstörung die notwendige Aufmerksamkeit zu geben und die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Mag.a Dominika Raditsch Bundesministerium für Bildung und Frauen, Abteilung für Diversitäts- und Sprachenpolitik; Sonderpädagogik und Inklusive Bildung DAS KIND MIT CEREBRALEN VISUELLEN INFORMATIONSVERARBEITUNGSSTÖRUNGEN - CVI Impressum Editorial 2 1 GRUNDLAGEN 1.1 WAS IST EINE CEREBRALE VISUELLE INFORMATIONSVERARBEITUNGSSTÖRUNG (CVI)? 1.2 WIE ERFOLGT DIE VISUELLE INFORMATIONSVERARBEITUNG IN AUGE UND GEHIRN 1.2.1 BASISLEISTUNGEN DES SEHENS VON AUGE UND GEHIRN 1.2.2 VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE WEITERE CEREBRALE VERARBEITUNG 1.2.3 VENTRALE WEITERVERARBEITUNG 1.2.4 DORSALE WEITERVERARBEITUNG 1.3 URSACHEN FÜR CVI 2 PÄDAGOGIK 2.1 CVI IM PÄDAGOGISCHEN ALLTAG - CHECKLISTE 2.2 VORGEHENSWEISE BEI VERDACHT AUF CVI 2.3 WICHTIGE BEREICHE DER CEREBRALEN VISUELLEN INFORMATIONSVERARBEITUNG 2.3.1 VISUELLE AUFMERKSAMKEIT 2.3.2 VISUELLES GEDÄCHTNIS 2.3.3 CROWDING (TRENNSCHWIERIGKEITEN) 2.3.4 BEWEGUNGSWAHRNEHMUNG 2.3.5 FARBWAHRNEHMUNG 2.3.6 FORM-, FIGUR- UND OBJEKTERKENNUNG 2.3.7 BUCHSTABENERKENNUNG 2.3.8 GESICHTSWAHRNEHMUNG 2.3.9 RÄUMLICH PERZEPTIVE WAHRNEHMUNG 2.3.10 RÄUMLICH KOGNITIVE FÄHIGKEITEN 2.3.11 VISUOMOTORISCHE UND VISUOKONSTRUKTIVE FÄHIGKEITEN 2.3.12 RÄUMLICH TOPOGRAFISCHE ORIENTIERUNGSLEISTUNGEN 2.3.13 ALLGEMEINE SENSORISCHE INFORMATIONSVERARBEITUNG 2.4 LESEN, SCHREIBEN UND RECHNEN LERNEN MIT CVI 2.4.1 DEUTSCH, LESEN UND SCHREIBEN 2.4.2 MATHEMATIK UND RÄUMLICHES GEDÄCHTNIS 2.5 CHECKLISTEN NACH UNTERRICHTSFÄCHERN 2.6 PRAKTISCHE UMSETZUNG IM UNTERRICHT 2.7 HILFESTELLUNGEN UND HILFSMITTEL 2.8 BERICHTE 2.8.1 KEIN PROBLEM ZU HAUSE 2.8.2 MEIN BESONDERES KIND MATTHIAS 2.8.3 MEINE TOCHTER FLORA 2.8.4 ZUHÖREN IST SEINE GROßE STÄRKE 2.8.5 DAS POSITIVE AN DER PROSOPAGNOSIE 2.8.6 WO BIN ICH? 3 NEUROPSYCHOLOGIE 3.1 DAS SEHAUFFÄLLIGE KIND AUS (NEURO-)PSYCHOLOGISCHER SICHT 3.1.1 DIE AUFMERKSAMKEITSFUNKTION 3.1.2 VISUELLES GEDÄCHTNIS 3.1.3 VISUELLE WAHRNEHMUNG ODER VISUELLE PERZEPTION UND RÄUMLICH VISUELLE WAHRNEHMUNG 3.2 DIE NEUROPSYCHOLOGISCHE UNTERSUCHUNG 3.2.1 DIE AUFMERKSAMKEITSFUNKTION (ICF B140) 3.2.2 VISUELLE WAHRNEHMUNG ODER VISUELLE PERZEPTION UND RÄUMLICH VISUELLE WAHRNEHMUNG 3.3 CVI FESTSTELLEN: EIN DISKREPANZ-MODELL 4 AUGENHEILKUNDE 4.1 DAS SEHAUFFÄLLIGE KIND AUS AUGENÄRZTLICHER/ORTHOPTISCHER SICHT 4.2 AUGENÄRZTLICHE UND ORTHOPTISCHE UNTERSUCHUNGEN 4.2.1 ANAMNESE = VORGESCHICHTE 4.2.2 FEHLSICHTIGKEITEN = REFRAKTIONSFEHLER 4.2.3 SEHSCHÄRFE = VISUS 4.2.4 GESICHTSFELD = (KONFRONTATIONS-) PERIMETRIE 4.2.5 KONTRASTSEHEN 4.2.6 FARBSEHEN 4.2.7 AUGENSTELLUNG, AUGENBEWEGLICHKEIT, BEIDÄUGIGES SEHEN 4.2.8 VORDERE UND HINTERE AUGENABSCHNITTE 4.2.9 ELEKTROPHYSIOLOGISCHE UND NEURORADIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN 4.2.10 BEFUND Literatur 65 Internetverweise 66 NOBODY IS PERFECT... ... wir nicht und auch nicht die Kinder, die wir unterrichten. Wir haben alle unsere Stärken und unsere Schwächen. Was tun, wenn die Schwäche in der Verarbeitung des Gesehenen zu einer detailgetreuen Abbildung im Gehirn und die Bewusstwerdung dieses Bildes nicht funktioniert? Mit dieser Frage werden im Besonderen die Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen konfrontiert und diese Frage hat zum Forschungsprojekt „Wenn die Wahrnehmung durch- einander gerät“ an der Pädagogischen Hochschule Steiermark und dem Odilien-Institut Graz unter der Leitung von Gertrude Jaritz und Birgit Schloffer geführt. Der englische Begriff „cerebral visual impairment“ kann ins Deutsche mit Cerebraler Visueller Informationsverarbeitungsstörung übertragen werden. Defizite in der Cerebralen Visuellen Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung ? bekannt unter CVI ? führen zu den unterschiedlichsten Auffälligkeiten im (schulischen) Alltag und erfordern eine interdisziplinäre Abklärung sowie die Berücksichtigung im pädagogischen Konzept. Diese, vom Bundesministerium für Bildung und Frauen in Auftrag gegebene, Broschüre entstand unter der Mitarbeit der Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen Gertrude Jaritz, Judith Kowal, Birgit Schloffer und Karin Trifinopoulos, der holländischen Neuropsychologin Marjolein Dik, den Augenärztinnen Hildegard Gruber und Margit Mikosch, betroffenen Menschen und deren Eltern. Die finnische Augenärztin Lea Hyvärinen hat uns die Augen für dieses Grenzgebiet der Augenheilkunde/Neurologie/Neuropsychologie geöffnet. Mit der Themen- und Materialiensammlung dieser Broschüre erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. „Alles Wissen und alle Vermehrung unseres Wissens endet nicht mit einem Schlusspunkt, sondern mit Fragezeichen. Ein Plus an Wissen bedeutet ein Plus an Fragestellungen, und jede von ihnen wird immer wieder von neuen Fragestellungen abgelöst.“ Hermann Hesse 1 GRUNDLAGEN 1.1 Was ist eine Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörung (CVI)? „Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörungen liegen vor, wenn aufgrund von einer oder mehreren Störungen der visuellen Funktionen Aktivitäten beeinträchtigt sind und/oder Probleme in der Teilhabe im alltäglichen Leben auftreten. Diese sind eine Folge von prüfbaren oder auch nicht prüfbaren Schäden oder einer abweichenden Entwicklung von einer oder mehreren Gehirnregionen.“ Diese Definition wurde nach der ICF ? International Classification of Functioning, Disability and Health 2013 (siehe S.58) von einer niederländischen Expertengruppe von Royal Dutch Visio entwickelt. Die Beobachtung des visuellen Verhaltens und die augenärztliche Untersuchung sind die Grundlage dieser Definition von CVI. Damit können Beeinträchtigungen von Aktivitäten sowie Probleme in der Teilhabe, die aus den Störungen dieser Funktionen resultieren, erklärt werden. Hyvärinen, Colenbrander und Dutton versuchten eine klare Differenzierung zwischen okulären und cerebralen Sehproblemen zu machen, allerdings beeinflussen sich Gehirn und Auge wechselseitig in der Wahrnehmung. Derzeit gibt es noch keine fundierten Zahlenangaben über die Häufigkeit von Kindern mit CVI. Irmgard Bals führt aus, dass eines von 1000 Kindern in den industrialisierten Ländern sehbehindert oder blind ist. Davon sind ungefähr 1/3 von einer cerebralen Sehstörung betroffen. (Bals, 2009, S. 7) Erfahrungen im pädagogischen Alltag lassen auf eine viel höhere Anzahl von Kindern mit CVI schließen. Die Diagnostik von CVI stellt eine komplexe Herausforderung dar und kann daher nur interdisziplinär erfolgen (Augenheilkunde, Pädagogik, Psychologie, therapeutische Berufe, Eltern). Netzwerke müssen aufgebaut werden, um die Inklusion und Teilhabe dieser Kinder zu ermöglichen. 1.2 Wie erfolgt die visuelle Informationsverarbeitung in Auge und Gehirn 1.2.1 Basisleistungen des Sehens von Auge und Gehirn Lichtstrahlen, die in das Auge fallen, werden vom optischen System (Sammellinse) gebrochen. Sind Brechkraft (Hornhaut und Linse) und Brennweite (Augenlänge) perfekt aufeinander abgestimmt, entsteht eine scharfe Abbildung des gesehenen Bildes auf der Netzhaut. Die Sehschärfe (der Visus) für die Ferne ist gut. Um in der Nähe gut zu sehen, muss sich unsere Linse wie ein Zoom-Objektiv auf näher gelegene Objekte einstellen = Akkommodation. Die Prüfung der Sehschärfe erfolgt mit schwarzen Sehzeichen auf weißem Hintergrund. Unsere Umwelt ist nicht nur schwarz-weiß. Tests in immer schwächer werdenden Grautönen untersuchen das Kontrastsehen, andere Tests das Farbsehen. Während die Sehschärfeprüfung nur die Abbildungsqualität der zentralen Netzhaut (Makula) ermittelt, wird die Gesamtheit der Netzhautfunktion mit der Gesichtsfeldprüfung festgestellt. Um bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen gut zu sehen, muss von Auge und Gehirn die Adaptation an Helligkeit und Dunkelheit erfolgen. Die Bilder beider Augen werden im Gehirn zu einem einzigen Seheindruck verschmolzen, dieses beidäugige Sehen ist die Basis für das dreidimensionale = Stereosehen. Die Voraussetzung dafür ist eine freie Beweglichkeit = Okulomotorik der Augen in alle Richtungen, harmonische Blicksprünge = Sakkaden und Folgebewegungen. Die Netzhaut wandelt die elektromagnetischen Wellen in Nervenimpulse um und leitet sie über den Sehnerv ins Gehirn weiter. Dort erfolgen ein detailgetreuer Aufbau des Bildes und schließlich die Bewusstwerdung des Gesehenen. Bevor man ein Bild erkennen kann, muss die ankommende visuelle Information vereinfacht werden. Sie wird entschlüsselt/dekodiert, dann wieder verschlüsselt, verarbeitet und schließlich werden die Teilinformationen wieder zu einer Gesamtinformation in den höheren visuellen Verarbeitungsarealen zusammengeführt. 1.2.2 Voraussetzungen für die weitere cerebrale Verarbeitung Aufmerksamkeit verbessert die Informationsverarbeitung. „Die Zuwendung von Aufmerksamkeit wird manchmal mit einem Scheinwerfer verglichen, der eine Bühne beleuchtet. Er kann weite Abschnitte der Bühne schwach ausleuchten oder aber nur einen einzigen Darsteller mit einem grellen Lichtkegel über die dunkle Bühne verfolgen. Sowohl die Richtung als auch die Weite des Lichtkegels bestimmen, was sichtbar und was verborgen bleibt. Je enger der Lichtkegel ist, desto genauer muss die Richtung stimmen.“ (Goldenberg, 2007, S. 232) Unsere visuellen Bilder werden im Arbeitsgedächtnis kurzfristig behalten und bearbeitet. Sie sind dem Bewusstsein unmittelbar präsent. Die Kapazität ist beschränkt, neue Informationen verdrängen die alten. Die Inhalte des Langzeitgedächtnisses sind dauerhaft gespeichert. Sie verschwinden nicht gänzlich, wenn sich das Bewusstsein anderen Inhalten zuwendet und können zu einem späteren Zeitpunkt erneut abgerufen werden. (Goldenberg, 2007, S. 21) Die optischen Informationen, die über die Sehbahn in das primäre Sehzentrum im Hinter-hauptlappen des Gehirns geleitet werden, werden von dort in viele sekundäre visuelle Verarbeitungsareale geschickt und bearbeitet, wobei ständige Rückkopplungen schließlich eine genaue Abbildung ermöglichen. 1.2.3 Ventrale Weiterverarbeitung Im Schläfenlappen (= occipitotemporaler, ventraler oder „Was- und Wer-Pfad“) erfolgt die Analyse in eigenen Arealen für Farbe, Formen, Figuren, Objekte, Buchstaben, Gesichter und Bedeutungsgebung (siehe Punkte 2.3.5 bis 2.3.8). 1.2.4 Dorsale Weiterverarbeitung Der Scheitellappen (= occipitoparietaler, dorsaler oder „Wo- und Wie-Pfad“) verwertet räumliche Beziehungen im Außenraum sowie zur eigenen Person und ermöglicht somit die visuomotorische Koordination (Auge-Hand-Koordination und Auge-Fuß-Koordination) und die zeitliche Orientierung (siehe Punkte 2.3.9 bis 2.3.12). Die Raumwahrnehmung beinhaltet die Bestimmung von Positionen, Richtungen, Größen, Längen, Winkeln und Entfernungen und ist die Basis für zeitliche Zusammenhänge. Die räumliche Orientierung an uns selbst macht uns unser Körperschema bewusst. Abb. 1: Cerebrale visuelle Verarbeitung im Gehirn mit dorsalem und ventralem Pfad. 1.3 Ursachen für CVI CVI kann bei anlagebedingten Störungen und bei Schädigungen des Gehirns auftreten. In einigen Fällen kann jedoch keine bestimmte Ursache gefunden werden. Eine Anzahl von Erkrankungen stellt ein erhöhtes Risiko für CVI dar (Bals, 2009, S. 14): - Gravierende anlagebedingte Schädigungen und Fehlbildungen des Gehirns - Frühgeburtlichkeit (Periventrikuläre Leukomalazie, PVL ist eine Schädigung der weißen Hirnsubstanz, welche die seitlichen Ventrikel umschließt) - Sauerstoffmangel bei der Geburt - Schädel-Hirn-Traumen, Hirnblutungen - Infektionen des zentralen Nervensystems (Meningitis, Enzephalitis), Intoxikationen (Vergiftungen), Metabolische Störungen (Stoffwechselstörungen) - Hydrocephalus, Hirndrucksteigerungen - Epilepsie „All diese Diagnosen können zu einer Beeinträchtigung des Sehens, zu Zerebralparese und Entwicklungsstörungen in praktisch jeder Kombination und Schwere führen.“ (Dutton, 2013, S. 10) 2 PÄDAGOGIK 2.1 CVI im pädagogischen Alltag Aus dem Blickwinkel der Pädagogik wird näher auf die Problematik eingegangen und CVI aus methodisch-didaktischer Sicht beleuchtet. So individuell der einzelne Mensch ist, so unter-schiedlich stellen sich auch die Beeinträchtigungen und Auswirkungen von CVI dar. Gedächtnisleistung und entwickelte Strategien der/des Betroffenen wirken kompensatorisch auf die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und die Teilhabe am Leben. Die folgende exemplarische Checkliste soll eine Hilfe zur Einschätzung visueller Auffälligkeiten sein. Der Begriff „Kind“ gilt für Schülerinnen und Schüler jeder Altersgruppe. Checkliste - Zeigt das Kind schwankendes Sehverhalten (abhängig von Tageszeit, Müdigkeit, Motivation)? - Hat das Kind Schwierigkeiten Farben richtig zu erkennen? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Erkennen von Formen und/oder Objekten? - Zeigt das Kind eine kurze Fixationszeit? - Kann das Kind nachschauen und mit den Augen folgen? - Hat es Schwierigkeiten Dinge zu sehen, die sich schnell bewegen? - Wird das Kind bei Arbeiten mit visuellen Aufgaben schnell müde? - Ist das Arbeitstempo bei visuellen Aufgaben verlangsamt im Vergleich mit dem anderer Kinder gleichen Alters? - Verweigert das Kind öfters visuelle Aufgaben oder zeigt es dabei ein passives Verhalten? - Benötigt das Kind vergrößerte Texte obwohl die Sehschärfe ausreichend ist? - Hat das Kind Probleme beim Blickwechsel (Heft-Tafel, Buch-Heft)? - Geht das Kind oft sehr nahe an die Lese-/Schreibvorlage heran? - Nimmt das Kind eine auffällige Haltung beim Lesen/Schreiben ein? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Lesen obwohl es die Buchstaben erkennt? - Hat das Kind Mühe von der Tafel richtig abzuschreiben? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Erlesen bestimmter Schriftarten? - Hat das Kind Probleme beim Lesen von schmalen Zeilen-/Zeichenabständen? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Lesen/Schreiben die Zeile zu finden? - Hat das Kind Schwierigkeiten sich im Heft/am Arbeitsblatt zu orientieren? - Hat das Kind Schwierigkeiten Einzelnes aus einer Menge zu filtern? - Übersieht das Kind öfter Details von einer Abbildung? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Verstehen von Bildern und Bildgeschichten? - Sieht das Kind oft einen Teil einer Seite oder eines Buches nicht? - Hat das Kind Schwierigkeiten akustische Informationen wahrzunehmen, wenn es visuell konzentriert arbeitet? - Hat das Kind Probleme, seine Sachen zu finden (in der Schultasche/im Bankfach/im Spind)? - Hat das Kind Schwierigkeiten zielsicher zu greifen? - Hat das Kind bei feinmotorischen Tätigkeiten Schwierigkeiten? - Malt das Kind oft über Linien hinaus und arbeitet ungenau? - Hat das Kind ein sehr auffälliges Schriftbild (schlampige Buchstaben, schreibt es unter oder über der Zeile)? - Fällt oder stolpert das Kind häufig? - Läuft das Kind öfters gegen Gegenstände? - Hat das Kind Probleme beim Stiegen steigen? - Übersieht das Kind Bodenunebenheiten? - Hat das Kind Probleme beim Einschätzen von Entfernungen? - Äußert das Kind Probleme beim Sehen bei veränderten Lichtverhältnissen - Licht/Schatten? Kneift es die Augen zu? - Bewegt sich das Kind oft unsicher (motorische Ungeschicklichkeit)? - Hat das Kind Mühe, sich selbständig anzuziehen? - Will das Kind gerne an der Hand gehen? - Hat das Kind Probleme Gesichter zu erkennen? - Fällt es dem Kind schwer, Gesichtsmimik zu erkennen und richtig zu deuten? - Hat das Kind Schwierigkeiten bekannte Personen auf Bildern zu erkennen? - Vermeidet das Kind Blickkontakt (z.B. beim Händeschütteln)? - Hat das Kind Probleme bekannte Personen zu finden, wenn sie in einer Gruppe stehen? Sollten mehrere Punkte zutreffen, ist eine genaue interdisziplinäre Abklärung zielführend. Voraussetzung ist die augenmedizinische Untersuchung und bestmögliche Versorgung mit Hilfsmitteln. Darauf aufbauend werden gemeinsam mit dem Kind und dem Umfeld Strategien zu den jeweiligen Herausforderungen entwickelt. „What and how does this child see?“ Nach Hyvärinen sind primär die Fragen WAS und WIE zum Sehen des Kindes zu klären und zu unterscheiden, welcher Natur die Probleme des Kindes sind. - Sind primäre Sehfunktionen des Kindes betroffen? Sehschärfe, Kontrast, Gesichtsfeld? In diesem Fall: Versorgung mit Hilfsmitteln, Adaptionen - Ist der Verarbeitungsprozess gestört? In diesem Fall: Strategien, Gedächtnistraining, Verständnis - Sind Aufnahme und Verarbeitungsprozess gestört? Dann kommen sowohl Hilfsmittel als auch Strategien zum Einsatz. 2.2 Vorgehensweise bei Verdacht auf CVI - Abklärung durch einen Facharzt/eine Fachärztin für Augenheilkunde - Abklärung durch einen Orthoptisten/eine Orthoptistin - gegebenenfalls neurologische und/oder (neuro-)psychologische Untersuchung, - wenn eine organische Störung ausgeschlossen wurde - Anamnese (auch in Bezug auf andere Erkrankungen/Störungen) - genaue Beobachtung des Kindes über einen festgelegten Zeitraum mit schriftlichen Aufzeichnungen durch die Lehrer/Lehrerinnen - Gespräch mit den Eltern/Erziehungsberechtigten über die weitere Vorgangsweise - Kontaktaufnahme mit einem/einer ausgebildeten Sehbehindertenpädagogen/in - Erstellen eines sehbehindertenpädagogischen Gutachtens - Erstellen eines Förderplanes unter Einbeziehung aller Beteiligten - Veränderung/Verbesserung der Rahmenbedingungen - (z.B. Sitzplatz, Raumgestaltung, Lichtbedarf, Zeitzugabe) 2.3 Wichtige Bereiche der cerebralen visuellen Informationsverarbeitung Für die Verarbeitung aller sensorischen Informationen (visuell, akustisch, taktil, ...) gibt es wesentliche Voraussetzungen. Teilhabe und Lernen erfordern: Aufmerksamkeit, Konzentration, Wachheit, Neugierde, Freude und Motivation. Diese Faktoren können beeinträchtigt sein durch: - Probleme, Sorgen und Ängste des Kindes - Schmerzen, z.B. bei spastischen Paresen - "Nichtakzeptanz" der Besonderheit des Kindes durch sein Umfeld - sedierende/dämpfende Medikamente, z.B. bei Epilepsie 2.3.1 Visuelle Aufmerksamkeit Im schulischen Bereich kommt der visuellen Aufmerksamkeit ein besonderer Stellenwert zu. Sehen ohne Aufmerksamkeit ist praktisch nicht möglich. Ein besonders gutes Beispiel für diese enge Verzahnung stellen Gesichtsfeld und Aufmerksamkeit dar. Die Verteilung von Aufmerksamkeit im Gesichtsfeld einerseits und die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gesichtsfeldbereich garantieren erst, dass aus einem Sehfeld ein Aufmerksamkeitsfeld wird. Die Größe des Aufmerksamkeitsfeldes entscheidet, welcher Ausschnitt der Umgebung besonders genau und zuverlässig auf- und damit wahrgenommen werden kann. Es kann vorkommen, dass winzige Details gesehen, aber größere Objekte übersehen werden. Oft hört man die Aussage: „Das Kind sieht nur, was es sehen will!“ Im Normalfall ist es möglich, die visuelle Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was man sehen will. Bei Kindern mit CVI sind viele höhere Hirnfunktionen und die dazugehörige Aufmerksam-keit beeinträchtigt, auch sind die notwendigen Kontrollfunktionen für das Richten der Aufmerksamkeit nicht ausreichend entwickelt. Hinweise wie „Schau genau“ oder „Gestern hast du das aber gut gesehen“ helfen nicht! Schwankendes Sehverhalten ist ein besonders häufiges Merkmal von CVI. Zihl führt aus, dass die visuelle Aufmerksamkeit entweder extern durch äußere Reize oder intern gesteuert wird. (Zihl, 2012, S. 30) Liegt eine Sehbehinderung vor und kann die visuelle Wahrnehmung durch Brillen und optische Hilfsmittel nicht weiter gesteigert werden, sind die Bilder oft blass und uninteressant. Vergrößerungen, Kontraststeigerungen und farblich differenzierte Darstellungen verbessern die Wahrnehmungsmöglichkeit und erhöhen damit die Aufmerksamkeit. Durch Augen- und Kopfbewegungen können irreversible Gesichtsfeldeinschränkungen teilweise ausgeglichen werden. Das Erlernen von Strategien ? bei Sehaufgaben, beim Absuchen von Bildern und Texten ? ein Plan im Richten und Durchhalten der Aufmerksamkeit ist sehr wichtig. * Aus der Praxis (alle Namen in den Praxisbeispielen sind abgeändert) Leopold hat Schwierigkeiten Gegenstände und Personen in einem Raum zu finden, wenn diese nicht genau in seinem Aufmerksamkeitsfeld liegen. Eine Mitschülerin setzte sich bei einem Suchspiel auf den Boden. Obwohl Leopold direkt vor ihr stand, konnte er sie nicht finden. Erst durch die Verknüpfung mit einem Geräusch wurde er auf das Kind im unteren Bereich seines Blickfeldes aufmerksam. Es ist ihm nicht bewusst, dass er seinen Kopf und auch den Blick in alle Richtungen wenden muss, um etwas zu entdecken. 2.3.2 Visuelles Gedächtnis Beim visuellen Gedächtnis unterscheiden wir zwischen Arbeits- und Langzeitgedächtnis. Das Arbeitsgedächtnis brauchen wir für die kurzzeitige Bearbeitung und Lösung einer Aufgabe: Abschreiben von der Tafel, Lösen einer Textrechnung. Im Langzeitgedächtnis speichern wir alle unsere Erfahrungen und Erlerntes: Buchstaben, Zahlen, Lerninhalte, Landkarte von Österreich, Schulausflug nach Schönbrunn. 2.3.3 Crowding (Trennschwierigkeiten) Unter Crowding versteht man die Schwierigkeit, eng beieinanderliegende visuelle Eindrücke (wie z.B. Buchstabenfolgen) zu verarbeiten. Konturen werden nicht klar abgegrenzt gesehen, sondern verschwimmen ineinander (siehe S.74). Kleine Details in Texten und Bildern werden nicht wahrgenommen. In Schulbüchern werden Texte oftmals farbig hinterlegt oder in Abbildungen hineingedruckt, was das Lesen sehr erschweren kann. Hilfen: Textvergrößerung und Erweiterung des Buchstaben- und Zeilenabstandes, klare und übersichtliche Gestaltung eines Arbeitsblattes, einfarbiger, kontrastreicher Texthintergrund. Manche Kinder können einen Text auf einem weißen Blatt besser lesen, als auf liniertem oder kariertem Papier. Die vergrößerten Speziallineaturen für sehbeeinträchtigte Kinder helfen manchen Kindern sehr, andere werden dadurch irritiert. (Hyvärinen 2011, S. 123 - 130) 2.3.4 Bewegungswahrnehmung Visuelle Erkennungsprobleme können vorkommen, wenn sich Kinder selbst bewegen oder Bewegungsabfolgen in der Umgebung zu rasch sind, um wahrgenommen zu werden. Um mit der Umwelt in geeigneter Weise zu interagieren, muss die Wahrnehmung von körpereigenen Bewegungen und von sich bewegenden Personen oder Gegenständen (z.B. Fahrzeuge) funktionieren. Eine beeinträchtigte Bewegungswahrnehmung hat zur Folge, dass nur statische oder sich langsam bewegende Objekte gesehen werden. Schnelle Bewegungsabläufe, wie etwa beim Sport, im Straßenverkehr oder auch eine rasche Bildabfolge bei Filmen (Comics) bereiten Schwierigkeiten oder machen Angst. *Aus der Praxis Manuel hat großen Spaß in den Turnstunden. Allerdings vermeidet er Lauf- und Ballspiele bei denen sich viele Kinder schnell bewegen. Er sucht sich meist eine ruhige Ecke und wartet ab, bis das Spiel zu Ende ist. Bei solchen Spielen sollte ihm die Teilnahme freigestellt und ruhige Übungen als Alternative angeboten werden. 2.3.5 Farbwahrnehmung Wenn Kinder sehr lange Zeit Farben nicht benennen, diese aber richtig zuordnen können, liegt eine Bezeichnungsunsicherheit oder ein Sprachgedächtnisproblem vor. Können Farben auch nicht richtig zugeordnet werden, dann kann eine Farbenblindheit (cerebrale Achromatopsie) oder eine Störung der Farbwahrnehmung (Dyschromatopsie) vorliegen. Rot- oder Grünblindheit/-schwäche, die vor allem bei Buben vorkommen kann, hat ihre Ursache in einer Zapfenfehlfunktion in der Netzhaut und ist nicht mit reduziertem Sehen kombiniert. Eine komplette Farbenblindheit auf Netzhautebene ist durch die gleichzeitige hohe Blendempfindlichkeit und sehr geringe Sehschärfe auffällig. Abb. 2: Nina übt Farben zuzuordnen, sie legt bunte Bausteine in gleichfarbige Teller. Abb. 3: Ein Kind versucht mit bunten Ostereiern vorgegebene Farbreihen richtig nachzulegen. 2.3.6 Form-, Figur- und Objekterkennung Die Erkennung von zweidimensionalen Formen und Figuren und die Wahrnehmung von dreidimensionalen Objekten gehört zu den komplexesten und schwierigsten Aufgaben unseres Sehsystems. Formen werden aus einzelnen Strichen, oft perspektivisch verändert, zusammen-gesetzt. Interessante Figuren müssen optisch vom Hintergrund herausgelöst werden. Den Dingen muss auch eine Bedeutung zugeschrieben werden: Die rote Kugel ist ein Ball zum Spielen oder ein Apfel zum Essen. *Aus der Praxis: Ein Vorschulkind entdeckt im Wimmelbilderbuch „Auf dem Bauernhof“ alle roten Häuser, hält aber auch den roten Traktor im Hintergrund für ein Haus. Ein Bub, der in jeder Hand einen roten Eimer trägt, wird als „Junge auf Fahrrad“ bezeichnet. Ein rundes Aststück wird als „Wurst“ bezeichnet. (Mundhenk, 2008, S. 9) Es ist offensichtlich so, dass aufgrund von Ähnlichkeiten Rückschlüsse gezogen werden. Ungleiche Objekte werden durch das Auftreten einiger Ähnlichkeiten als gleich eingeschätzt. Anhand von wenigen Details wird versucht, Objekte zu erkennen, dadurch entstehen Verwechslungen. Die folgenden Bilder zeigen Darstellungen von Früchten und Gemüse. Die Unterscheidung wird im ersten Fall (Banane, Erdbeere) durch die Farbe und die Form leichter fallen als im zweiten Beispiel (Tomate, Kirsche). Abb. 4a, 4b: Auf Bildern sind jeweils zwei Früchte nebeneinander dargestellt Abb. 4a: Banane und Erdbeere, Abb. 4b: Tomate und Kirsche Für die Objektbestimmung nehmen die Kinder sehr schnell andere Sinne zu Hilfe. Sie greifen den Gegenstand an und versuchen, die Oberflächeneigenschaften zu ertasten, sie riechen bzw. stecken die Dinge zur oralen Analyse in den Mund. Die Form- und Objekterkennung muss durch das wiederholtes Anbieten unterschiedlicher Materialien geübt werden: realer Gegenstand, Gegenstand aus Holz, Plastik, Stoff, Relief, Bilder des Gegenstandes, sodass sie nicht nur visuell, sondern auch taktil gespeichert werden können. Abb. 5a, 5b: Beispiele zur Objekterkennung Abb. 5a: Schweine in verschiedenen Ausführungen: Foto, Zeichnung, Stofftier, Glücksschweinchen, Sparschwein Abb. 5b: Pferde und Schafe in zweidimensionaler (Bild) und in dreidimensionaler (Plastiktiere) Darstellung. *Aus der Praxis: Lisa konnte lebende Hasen nicht erkennen und benennen. Ihr Stofftier steht für den Begriff „Hase“. Ein Gegenstand/Tier wird von ihr nur in einer bestimmten Form abgespeichert und wiedererkannt. Die Fähigkeit zu vergleichen und zu abstrahieren ist bei dem Mädchen beeinträchtigt. Beim LEA-Puzzle werden spielerisch die Teile ineinander gefügt und benannt. Dabei wird auf den Wortschatz der Kinder eingegangen (z.B. Apfel oder Herz, Fenster oder Viereck). In den meisten Fällen gelingt die Zuordnung über die farbige Darstellung leichter als über die schwarz-weiße Seite. Im nächsten Schritt werden die Formen den zweidimensionalen Abbildungen zugeordnet (www.lea-test.fi). Abb. 6a: Farbiges LEA Puzzle mit den Formen Haus, Kreis, Apfel und Quadrat. Abb. 6b: Nina ordnet die schwarz-weißen Formen des Lea Puzzles den entsprechenden Bildern zu. * Objektkonstanz Durch Angreifen und Drehen eines Gegenstandes empfängt das Kind verschiedene optische Ansichten: Ein Auto bleibt ein Auto, ob von vorne, von hinten, von der Seite, von oben oder unten betrachtet. Der Rauchfangkehrer in der Bildfolge unten bleibt ein Rauchfangkehrer aus allen Richtungen betrachtet, egal ob er steht oder liegt. Die Fähigkeit, Objekte aus unterschiedlichen Richtungen zu erkennen, bildet die Grundlage für die Objektkonstanz. Abb. 7a-e: Auf der Bildfolge ist ein kleiner Rauchfangkehrer (Silvester-Glücksbringer) in verschiedenen Positionen zu sehen: liegend von vorne, stehend von hinten, vorne und seitlich, liegend von oben. * Gestaltschließen (visual closure) Darunter versteht man die Fähigkeit gestrichelte/unvollständige/teilweise verdeckte Linien zu einer vollständigen Figur zu ergänzen, d.h. von einer Teilinformation auf das Ganze schließen. Fehlt diese Funktion, kann das Kind oft keinen Zusammenhang im Bild herstellen. Abb. 8: Punkte sollen zu einer vollständigen Figur verbunden werden. Abb. 8a: Apfel, Abb. 8b: Schnecke * Figur-Hintergrund-Erkennung Figur-Hintergrund-Erkennung ermöglicht die Verarbeitung vieler visueller Informationen zur gleichen Zeit und die Trennung von Vordergrund und Hintergrund. Kinder mit CVI haben mit dieser Verarbeitung mitunter große Schwierigkeiten. Im Schulalltag macht sich diese Problematik bemerkbar, indem zum Beispiel Hefte/Bücher in der Schultasche oder im Bankfach nicht gefunden werden können. Die Kinder finden sich auf ihrem Arbeitsplatz nicht zurecht und brauchen einen genauen Ordnungsrahmen (farbige Heftumschläge mit zusätzlichen Symbolen, bunte Mappen, gekennzeichnete Ablagefächer). Wichtig wäre es, im gesamten Umfeld des Kindes eine „visuell ruhige“, geordnete Umgebung zu schaffen. Abb. 9a-c: Steine, Muscheln, Murmeln, Knöpfe und andere kleine Gegenstände auf einfarbigem, auf schwach und auf stark gemustertem Hintergrund. Das visuelle Erkennen muss Anschluss an das Langzeitgedächtnis (semantisches Gedächtnis = Bedeutung) und an die Sprache finden, damit Objekte richtig benannt werden können (Perzeption und Assoziation). Bei Formerkennungsproblemen sollte man bedenken, dass Schwierigkeiten auch in der Sprachverarbeitung, also in der richtigen Benennung von Gegenständen und im auditiven Gedächtnis liegen können. 2.3.7 Buchstabenerkennung Die Evolution hat in unserem Gehirn eine eigene Region für die Erkennung von Schriftzeichen entwickelt. Sie ist eng verknüpft mit der Sprach- und motorischen Region zur Umwandlung der Grapheme in Phoneme und zur Schrift. Buchstaben bestehen aus senkrechten, waagrechten und schrägen Strichen sowie Rundungen. Es ist nicht egal ob der Strich zwischen zwei senkrechten Strichen waagrecht = H oder schräg = N ist oder ob der Strich bei den Buchstaben links nach oben = b, rechts nach oben = d, links nach unten = p oder rechts nach unten = q zeigt. Daher ist für das Erlernen der Buchstaben auch die Raum- und Richtungswahrnehmung erforderlich. *Aus der Praxis: Als die Eltern merkten, dass für Alexander Buchstaben völlig uninteressant waren und er damit weder Bedeutung noch Aussprache verknüpfen konnte, bastelten sie für ihn Buchstaben aus buntem Papier. Durch Zuordnung einer jeweiligen Farbe (z.B. E ist rot, B ist blau) konnte Alexander einfache Worte „lesen“. Sobald dieselben Worte in Schwarz-Weiß-Druck dargeboten wurden, war kein Lesen mehr möglich. Alexander konnte nicht die Figur der Buchstaben analysieren, er assoziierte die Farbe mit einem Buchstabenlaut. Abb. 10: Alexander beim Lesen der „bunten Wörter“. Abb. 10a: Esel und Abb. 10b: Zebra 2.3.8 Gesichtswahrnehmung Die Region der Gesichtswahrnehmung liegt im Schläfenlappen neben der Region für die Buchstabenerkennung. Dies erklärt das häufig kombinierte Vorkommen beider Störungen. Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie (aus dem Altgriechischem: prosopon - das Gesicht, agnosia - das Nichterkennen) bezeichnet die Unfähigkeit, bekannte Personen (sogar Eltern und Freunde) anhand ihres Gesichtes zu erkennen. *Aus der Praxis: Erst beim Kindergartenfest fiel die Gesichtsblindheit von Cem auf, da er seine eigene Mutter anfangs nicht fand. Diesmal waren mehrere Mütter mit Kopftuch anwesend. Erst das typisch gebundene Kopftuch ließ ihn seine Mutter entdecken. Menschen mit Prosopagnosie entwickeln Strategien, um mit der Störung umzugehen. Sie erkennen Menschen - an der Stimme, am Auftreten - am typischen Geruch, Parfum - an Größe, Statur, Bewegungsmuster und Gangart - an der Frisur und an Kleidungsgewohnheiten Sehr oft schauen die betroffenen Kinder andere Personen nicht an, obwohl sie sie sehen könnten. Sie betrachten sich selbst nicht im Spiegel und erkennen Gesichter am Foto hauptsächlich am Hintergrund oder an anderen Details. *Aus der Praxis: Julia (15 Jahre, geistige Behinderung, starke Körper- und Sehbehinderung) zeigte kein Interesse an Gesichtern, ihr Kopf war meist gesenkt. Anlässlich einer festlichen Veranstaltung schminkte sich die Mutter und bot das auch ihrer Tochter an. Durch die Verwendung von Lippenstift und Augen-Make-up bekam Julia Freude, ihr Gesicht im Spiegel anzuschauen. Diese Freude und Motivation hielt auch später an. Die Erkennung der Gesichtsmimik ist eine eigene Qualität der Wahrnehmung. Die Deutung des emotionalen Gesichtsausdruckes ist wesentlich im Zusammenleben mit anderen Menschen: Schaut mich die Lehrerin streng oder wohlwollend an? Ist die Mutter böse, habe ich etwas angestellt? Freut sich die Freundin oder hat sie Angst? 2.3.9 Räumlich perzeptive Wahrnehmung Darunter versteht man die Fähigkeit zur Einschätzung der Entfernung, Größe, Lage und des Neigungsgrades des Objektes zu anderen Objekten und zur eigenen Position. Abb. 11: Alexander versucht mit seiner Hand die Fingerspitze einer anderen Person zu treffen. Abb. 12: Die Untersuchungsperson hält einen Stift, Peter muss mit seinem Stift den anderen von oben treffen. Dafür sind Entfernungsschätzung und Stereosehen erforderlich. * Länge und Linienrichtung Um eine Figur zu erkennen, schauen wir zuerst auf die Konturen: Kontrastunterschiede, senkrechte, waagrechte, schräge Linien/Kanten und Umrandungen. Fehlt die Richtungswahrnehmung, so ist es auch nicht möglich Winkel richtig zu verstehen und diese korrekt nachzulegen, zu zeichnen und zu schreiben oder eine analoge Uhr abzulesen. Ein Teil unserer Buchstaben besteht nur aus Linien und Winkeln: Abb. 13: Grafik, die die Linien und Winkeln zeigt, aus denen Buchstaben bestehen. Die Linienorientierung ist auch bedeutsam für die Auge-Hand-Koordination, das Erkennen von komplexen Bildern und die Orientierung in der Umwelt. Abb. 14: Frau Dr. Lea Hyvärinen prüft die Linienrichtung mit dem LEA Briefkastentest (gelbe Scheibe mit einem Schlitz). Abb. 14a: Alexander steckt seinen „Brief“ durch den senkrechten Schlitz. Abb. 14b: Martin hält seinen „Brief“ waagrecht und erkennt nicht, dass der Briefkastenschlitz senkrecht steht. Die Begriffe Länge und Richtung/Orientierung sind so zentral in der Entwicklung der räumlichen Wahrnehmung, dass sie in Spiel- und Fördereinheiten immer wieder geübt werden sollen: gleich oder nicht gleich! Abb. 15: Für Alexander ist es unmöglich, den E-Haken in die gleiche Richtung zu drehen wie auf der Vorlage. Abb. 16: Frau Dr. Lea Hyvärinen prüft die visuelle und taktile Größenzuordnung der LEA Rectangles. (Rechtecke) 2.3.10 Räumlich kognitive Fähigkeiten Das sind die Fähigkeiten zur Verarbeitung und Transformation von räumlichen Informationen. Diesen Personen fällt es schwer, sich eine Veränderung (Drehung, Spiegelung) eines Objektes vorzustellen oder sie erkennen das Objekt aus einer anderen Perspektive nicht. Probleme ergeben sich z.B. bei konstruktiven Aufgaben und beim Kartenlesen. Abb. 17a: Landkarte von Österreich in richtiger Lage und Abb. 17b: um 180 Grad gedreht. 2.3.11 Visuomotorische und visuokonstruktive Fähigkeiten Sind die Fähigkeiten einzelne Teile aus denen Objekte bestehen, zu erkennen bzw. diese zusammenzufügen. Es kann sich dabei um eine zweidimensionale Zeichnung handeln, die aus mehreren Linien besteht (z.B. ein Buchstabe) oder um eine dreidimensionale Konstruktion (etwa ein Haus aus Legosteinen oder Spielsachen im „Überraschungsei“). Die Position der Teile zueinander, Längen und Winkeln müssen richtig erkannt werden, um etwas zu zeichnen oder zu bauen. Abb. 18a: Alexander beim Schienen legen und Abb.18b: Turm bauen. Der Bub geht dabei rein taktil vor. Sein Blick richtet sich nicht auf die Konstruktionen, die er in den Händen hält. * Auge-Hand-Koordination Das Zusammenspiel von Sehen und Greifen ist die Grundlage für die Entwicklung fein-motorischer Fähigkeiten. Die Feinmotorik hängt eng mit der grobmotorischen Entwicklung zusammen bzw. baut auf diese auf. Im Alltag gibt es viele visuelle Eindrücke auf die man mit Bewegung reagiert. Nahezu bei jeder Tätigkeit sind wir also auf eine gute Auge-Hand-Koordination angewiesen, um eine ziel-gerichtete Handlung zu setzen. Wenn die visuomotorische Koordination schwach ist oder ein sensorisches Integrations- oder Informationsverarbeitungsproblem vorliegt (es ist nicht möglich, zwei Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen - z.B. Schauen und Greifen), werden Unterschiede verschiedener Gegenstände taktil erkundet und erfasst. Abb. 19a-c: Matthias legt ein Puzzle ohne hinzuschauen, rein taktil versucht er die Formen einzufügen. Je mehr die Bewegungsfunktion beeinträchtigt ist ? z.B. bei Kindern mit Cerebralparese ? desto problematischer ist die visuomotorische Koordination. Gleichzeitiges Schauen und Tun gelingt kaum über einen längeren Zeitraum, da es zu anstrengend ist. * Auge-Fuß-Koordination Für Menschen mit CVI können taktile und akustische Informationen, die die Umgebung und die Bodenbeschaffenheit betreffen, hilfreich sein. Schwierigkeiten treten auf beim Gehen auf unebenem Untergrund (z.B. Wiese, Schotter, Waldboden) und bei Übergängen (z.B. Schwellen, Zebrastreifen, Teppich, unterschiedliche Böden). Stufen und Gehsteigkanten erfordern eine gute Auge-Fuß-Koordination und ein richtiges Einschätzen der Höhenunterschiede. Ein notwendiges Hilfsmittel für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen ist der Langstock, der auch Blindenstock oder weißer Stock genannt wird. In der finnischen Schule Jyväskylä wurde gemeinsam mit Lea Hyvärinen der „Pathfinder“ als Mobilitätshilfe für junge Kinder entwickelt. Die Anwendung ist einfach und erfordert kein Training in einer speziellen Technik. Mit dem „Pathfinder“ ist es möglich, die Beschaffenheit und Oberflächenstruktur des Unter-grundes zu erfahren. Abb. 20a-c: Kinder erforschen mit dem Pathfinder eine unebene Bodenbeschaffenheit (Wiese, Wald, Schnee) 2.3.12 Räumlich topografische Orientierungsleistungen Das sind die Fähigkeiten zur Orientierung im Raum, zur Orientierung am eigenen Körper und zum Erfassen der geografischen Relationen. Personen mit einer Beeinträchtigung der visuell-räumlichen Fähigkeiten fällt es z. B. schwer, Wege zu finden. Die Störung kann so ausgeprägt sein, dass sich die Betroffenen nicht einmal im eigenen Zimmer zurechtfinden können. Abb. 21a: Alexander im Klassenzimmer und Abb. 21b: im Stiegenhaus. Er verwendet für die Bewegung im Raum Blindentechniken. Das Kind muss erst alle alltäglichen „Bilder“ aus seiner Umgebung erfahren und speichern, um beim nächsten Mal alles wiederzuerkennen: den Arbeitsplatz, die Schulklasse, das Kinder-zimmer, die Busstation, … *Aus der Praxis: Max geht auf die Toilette und findet im Klassenzimmer nicht zu seinem Platz zurück. Er kann seinen Tisch nicht wiedererkennen und hat den Weg nicht abgespeichert. Jedes Mal erscheinen ihm der Weg und die Umgebung neu. Üblicherweise werden beim Eintreten in einen Raum die Grundstruktur und die Umgebung unbewusst wahrgenommen und gespeichert (Einrichtungsgegenstände, Fensterseite, Türseite). Da bei Kindern mit CVI das Sehvermögen oftmals schwankt und/oder Merkmale rein optischer Natur nicht als Orientierungshilfen abgespeichert werden können, ist es notwendig, sogenannte „Landmarks“ auch multisensorisch einzusetzen. (Mundhenk, 2008, S. 17) * Körperschema Unter Körperschema versteht man das Bewusstsein der Lage aller Körperteile zueinander und es bildet die Grundlage für die Orientierung im Raum. Die Wahrnehmung des eigenen Körperbildes schafft eine innere Karte, die uns hilft Bewegungen zu koordinieren und Unterschiede von Richtungen zu differenzieren (oben/unten, hinten/vorne, rechts/links). Die Orientierung an unserem eigenen Körper ist wesentlich beim Ankleiden. Menschen mit einer Körperschemastörung haben Schwierigkeiten, ihre Kleider in die richtige Richtung zu drehen, um ihre Arme, Beine oder den Kopf durch die entsprechenden Öffnungen zu stecken - sie „wurschteln“ sich hinein. Abb. 22a-c: Alexander bemüht sich, seine Schultasche richtig auf den Rücken zu nehmen. 2.3.13 Allgemeine sensorische Informationsverarbeitung Die Integration aller Sinnesinformationen und die allgemeine Reizverarbeitung sind Prozesse, die viel Gehirnaktivität verlangen. Im Laufe der Entwicklung entsteht Kontrolle darüber und ein persönliches Gleichgewicht. Diese Sinnesabstimmung oder sensorische Integration oder sensorische Integrations-verarbeitung kann gestört, beziehungsweise nicht entwicklungsgemäß ausgebildet sein. Allgemeine Probleme in der sensorischen Integration gibt es auch bei Kindern mit CVI. Diese Kinder schauen jemanden nicht an oder schauen weg, während sie sprechen oder eine motorische Aktivität ausüben. Viele Kinder zerlegen ihre Aktivitäten: Zuerst schauen sie, dann agieren sie ohne zu schauen (z.B. tasten). Alle Menschen haben wohl schon die Erfahrung gemacht, dass es manchmal zu helle, zu laute, zu schrille oder zu viele visuelle Eindrücke gibt. Bei solchen Reizen möchte man sich am liebsten wegdrehen oder gar weggehen. Das Umgekehrte gibt es aber auch, nämlich dass etwas zu wenig laut, zu wenig bewegt, zu farblos oder zu unklar ist, um es gut wahrnehmen zu können. *Aus der Praxis Nikis Mitschüler sind sehr lebhaft. Jedes noch so kleine Geräusch lässt ihn erschrecken. Damit er sich auf seine Arbeiten konzentrieren kann, wurde für ihn eine ruhige Arbeitszone geschaffen (Arbeitskoje, Verwendung von Kopfhörern). Abb. 23a, 23b: Es sind zwei Räume zu sehen, in denen durch Kästen und Raumteiler Ruhezonen geschaffen wurden, um Ablenkungen aus der Umgebung zu vermeiden. 2.4 Lesen, Schreiben und Rechnen lernen mit CVI Lesen, Schreiben und Rechnen lernen stellt oft eine besondere Herausforderung für Kinder mit CVI dar. 2.4.1 Deutsch, Lesen und Schreiben Manche Kinder sagen: „Es ist, als ob die Buchstaben miteinander tanzen würden“. Schreiben lernen ist nur dann möglich, wenn das Zusammenspiel Auge-Hand funktioniert, wenn die Raumorientierung exakt wiedergegeben wird (H/N, b/d, p/q) und Buchstaben und Zahlen als Figuren wiedererkannt werden. In den Volksschuljahren benötigen alle Kinder und im besonderen Maße Kinder mit Beeinträchtigungen größere Buchstaben und Zahlen mit weiten Abständen zwischen den Zeichen. Das visuelle System entwickelt sich bis zum 12. Lebensjahr. Zu kleine und zu eng beisammenstehende Buchstaben verschwimmen ineinander = Crowding oder Trennschwierigkeiten (siehe Augenheilkunde). Erst mit der optimalen Ausreifung von Netzhaut, Sehbahn und Sehzentren im Gehirn wird es möglich, klein gedruckte Texte mühelos zu lesen. Das ist auch die Erklärung, warum manche Kinder mit Legasthenie oft vergrößerte Arbeitsblätter und Kopien haben wollen, dies erleichtert ihnen das Lesen. Allerdings heißt das nicht, dass diese Kinder zwingend CVI haben. Legasthenie hat vor allem mit Sprach- und Klangverarbeitung zu tun. Lesen lernen erfordert - eine scharfe optische Abbildung in allen Entfernungen - (mühelose Akkommodation von der Tafel zum Heft und umgekehrt) - eine stabile Fixation - das Erkennen der Buchstaben - Blicksprünge entlang von Buchstabengruppen und entlang der Zeile - die Klangspeicherung im Arbeitsgedächtnis - (Merkfähigkeit von mindestens fünf Klangreihenfolgen) - ein planmäßiges Richten der Aufmerksamkeit über das Arbeitsblatt Für viele Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen ist es besser die Druckschrift statt der Schreibschrift zu verwenden, da die Schreibschrift motorisch sehr komplex ist und die Kinder damit überfordert sind. Wenn die eigene Handschrift (z.B. bei spastischer Parese) nur schwer leserlich ist, wäre es sinnvoll, auf die Arbeit am PC umzusteigen. Am Computer kann sich das Kind auf die Rechtschreibung konzentrieren. Handschrift wird geübt, um einfache Notizen und auch die Unterschrift machen zu können. 2.4.2 Mathematik und räumliches Gedächtnis Mathematikaufgaben erfordern eine sichere Orientierung im Zahlenraum, Wiedererkennung der Ziffern, eine korrekte Benennung und ein gutes Gedächtnis. Kinder mit mangelnder Körperwahrnehmung haben meist in jungen Jahren den realen Raum nur ungenügend erforscht und können daher den abstrakten mathematischen Raum nur schwer begreifen. Die Begriffe und Mengen von Einer, Zehner, Hunderter oder Tausender können nicht erfasst werden. Bei manchen Kindern ist das reale Verständnis nur im Zahlenraum bis fünf vorhanden, auch wenn sie weiter zählen können. Sogar in diesem Bereich gibt es oft nur auswendig gelernte Aufgaben und Antworten. Das Kind hat möglicherweise auch keine Vorstellung von dreidimensionalen Formen in der Geometrie und kann diese in Skizzen nicht erkennen. Durch Probleme in der visuellen Informationsverarbeitung scheitert das Kind oft an Aufgaben, die es eigentlich verstanden hat. Das Schauen auf eine Aufgabe kann das Zuhören blockieren. Einfache Hilfen können diese Schwierigkeiten oft lösen: - Augen schließen und bei einer Aufgabenerklärung nur zuhören - nur eine Aufgabe auf einem Blatt, vor allem bei Tests und Schularbeiten - eigenes System der Kinder beim Multiplizieren und Dividieren erlauben - bei den schriftlichen Grundrechnungsarten Zahlen, die man sich merken muss, extra notieren (Extrablatt) - geeignete Lineaturen - Für manche Kinder wird es einfacher, wenn sie für die Aufgaben ein Arbeitsblatt ohne Lineatur nehmen, andere Kinder orientieren sich besser auf einem karierten Blatt, wenn „jede Ziffern in ihrem Abschnitt bleibt“. - Computerprogramme wie beispielsweise Mathcad oder Geogebra können bei Problemen in der visuellen Informationsverarbeitung und/oder in der motorischen Koordination unterstützen (Hyvärinen 2011, S. 141 f). Durch Beobachten oder Mitfilmen kann oft die Ursache der Problematik gefunden werden. Sind die schulischen Leistungen nicht zufriedenstellend, sollte das Sehvermögen wiederholt durch Fachleute untersucht werden. Beispiele zur besseren Strukturierung von Arbeitsblättern: Abb. 24: Arbeitsblatt mit Textaufgabe. Schaffung von Strukturen durch Silbentrennung und große Abstände zwischen den Zeilen, farbige Zahlen und Kästchen zum Eintragen der Rechnung. Abb. 25: Arbeitsblatt mit Rechenreihen. Vergrößerte Zahlen, hoher Kontrast, Abtrennung zwischen den Reihen. 2.5 Checklisten nach Unterrichtsfächern Folgende Checklisten - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - stehen als Unterstützung für den Unterricht zur Verfügung *DEUTSCH/SCHREIBEN Das Kind - hat Probleme beim Nachspuren von Buchstaben - hat Probleme sich im Heft zu orientieren - beginnt irgendwo am Blatt zu schreiben - kann Zeilen und Kästchen nicht einhalten und schreibt darüber hinaus - lässt Zeilen/Seiten aus - verliert im Heft den Überblick - hat Probleme im Arbeitsbuch/am Arbeitsblatt Lösungen einzutragen - verwechselt visuell ähnliche Buchstaben - hat Schwierigkeiten beim Schreiben in Schreibschrift **WIE KANN ICH HELFEN: - Abstand des Kindes zur Tafel verringern - deutliches Schreiben an der Tafel - Markierungspunkte für das Kind setzen, v.a. bei längeren Texten (z.B. bei jedem Satz eine andere Farbe, damit das Kind beim Blickwechsel vom Heft zur Tafel die gesuchte Stelle leichter wiederfindet) - generell mehr „Blickpunkte“ anbieten (z.B. durch farbige Wörter, farbige Magnete, Unterstreichungen, übersichtliche Anordnung) - beim Abschreiben von Arbeitsblättern auf gut lesbare Schriftart achten - Texte (z.B. aus Büchern, Arbeitsblätter) vergrößert kopieren - deutliche Kopien (z.B. genügend Kontrast) - übersichtliche Gestaltung des Arbeitsblattes - Schreiben am PC - Speziallineaturen verwenden - Markierung an der Stelle, an der gelesen bzw. gearbeitet wird - eine Hilfe zum Abdecken von Teilabschnitten verwenden (z.B. Farbstreifen oder durchsichtiges Leselineal) *DEUTSCH/LESEN Das Kind - verliert beim Lesen die Zeile - weiß nicht, wo gerade gelesen wird - kann sich im Buch nur schwer orientieren - liest nicht sinnerfassend - verliert die Konzentration, ermüdet rasch - geht sehr nahe an die Vorlage heran - kann (manche) farblich unterlegten Texte schwer lesen - kann schwach Gedrucktes schwer lesen - kann manche Schriftarten nicht lesen - findet sich im Wörterbuch schwer zurecht **WIE KANN ICH HELFEN Schwierigkeiten bei der Orientierung in Texten - klare verbale Angaben, wo etwas zu finden ist - Markierungspunkte für wichtige Stellen (mit dickem Stift, Klebepunkt) - Lesezeichen verwenden - Leseschablone, die nur ein Sichtfenster für eine Zeile hat - Abdecken von Teilabschnitten - Suchhilfe durch Mitschülerinnen/Mitschüler erlauben - Lichtverhältnisse überprüfen (zu dunkel, Blendung) - Texte vergrößern - Texte kontrastreich gestalten - Textteile (Arbeitsblätter) teilen: falten, zerschneiden - bei selbst erstellten Arbeitsblättern: leserliche Schriftart, angepasste - Schriftgröße, ev. Fettdruck, Zeilenabstand erhöhen, Laufweite vergrößern - Texte in Büchern (farblich unterlegt, in Bildern) von anderen vorlesen lassen Bei der Arbeit im Wörterbuch - am Beginn nur kleine Abschnitte auswählen (nur eine Seite) - bei der Sucharbeit eine Abdeckung verwenden/weiterrutschen (Lesezeichen, farbiges Blatt) - Indexfarbstreifen bei Seiten mit Buchstabenwechsel als optische Orientierungshilfe *SACHUNTERRICHT Das Kind - hat Schwierigkeiten Gegenstände zu erkennen/zu benennen - hat Schwierigkeiten Nachbildungen von Gegenstände zu erkennen - hat Schwierigkeiten zweidimensionale Darstellungen zu erkennen/zu benennen - hat Schwierigkeiten beim Ausführen mehrerer Arbeitsschritte - findet sich im Stationenbetrieb nicht zurecht - kann nicht gleichzeitig zuhören und seine Arbeiten ausführen - kann Landkarten nicht lesen und/oder sich darauf orientieren - findet sich in farbig gestalteten Arbeitsunterlagen nicht zurecht - findet sich in Arbeitsvorlagen mit vielen Bildern/Tabellen nicht zurecht **WIE KANN ICH HELFEN - mit Anschauungsmaterial arbeiten - alle Sinne miteinbeziehen - Arbeitsschritte mehrfach wiederholen - „Auftragskärtchen“ (einfache grafische Darstellungen) verwenden - Arbeitsplan gemeinsam erstellen - Suchbereich auf Landkartenarbeit einschränken - Skizzen in mehrere zerlegen, z. B. nur Flüsse, nur Grenzen, nur Städte, ... - Arbeitsblätter vereinfachen oder nur Teile davon verwenden - Verwendung von Orientierungspunkten/Lesefenstern - Verwendung spezifischer Hilfsmittel (z.B. Visolettlupe) - Leselineal für Tabellen *MATHEMATIK Das Kind - hat Probleme sich im Heft zu orientieren - beginnt irgendwo am Blatt zu schreiben - lässt Kästchen/Seiten aus - schreibt Ergebnisse/Antworten in die falsche Zeile/Spalte - hat Probleme im Arbeitsbuch/am Arbeitsblatt Fehlendes einzutragen - verliert im Buch den Überblick - hat Probleme beim Erfassen von Textaufgaben - hat Probleme beim Erfassen/Bearbeiten von Tabellen **WIE KANN ICH HELFEN Probleme beim Schreiben der Ziffern und Zahlen - Spezialhefte oder vergrößerte Lineaturen verwenden - Ziffern auf unterschiedliche Weise erfassen (Tastziffern, Spuren im Sand, Wolle, Knetmasse, verschiedene Papierarten) - Schreiben am Computer Schwierigkeiten bei Mengenerfassung, Reihenfolgen - Anschauungsmaterial verwenden (Rechenschieber, Rechenkettchen, kleine Autos, Figuren) - Kinder längere Zeit auch mit den Fingern rechnen lassen - viele Zuordnungsaufgaben: Ziffern/Zahlen - Mengen Verwechslungen, Vertauschungen - beim Abschreiben aus dem Buch Markierungen/Abdeckungen verwenden - an der Tafel mit Farben/Markierungen arbeiten - Zeitdruck vermeiden Orientierung in Heften, Büchern - genaue verbale Angaben, wo etwas zu finden ist - Markierungspunkte für wichtige Stellen (mit dickem Stift, Klebepunkt) - Lesezeichen verwenden - Abdecken von Teilabschnitten - Leselineal vertikal verwenden *GEOMETRIE Das Kind - hat Probleme beim genauen Arbeiten - hat Probleme beim genauen Messen - hat Probleme beim Zeichnen von geometrischen Formen und Winkeln - hat Probleme beim Vergrößern, Verkleinern, Spiegeln, Vervollständigen **WIE KANN ICH HELFEN - spezielle Lineale, Messgeräte verwenden (farbig, kontrastreich) - geeignete Stifte, geeignetes Papier (am besten ausprobieren!) - Messtoleranz (vor allem im Millimeterbereich) - Zusatzmaterialien (taktiler farbiger Geometrieatlas) - Geometriesoftware: Geogebra, Mathcad - Aufgaben vereinfachen und zerlegen - keinen Zeitdruck *BILDNERISCHE ERZIEHUNG UND WERKUNTERRICHT Das Kind - zeichnet/malt nicht altersadäquat - vergisst beim Zeichnen wichtige Details (z.B. Augen, Schuhe, Fenster) - kann Begrenzungen beim Malen kaum einhalten - nutzt die Zeichenfläche nicht aus - hat Probleme beim handwerklichen Arbeiten, im Gebrauch von Werkzeug - hat Probleme beim Schneiden, Kleben, Falten - arbeitet ungenau und schlampig - hat Schwierigkeiten beim Ausführen mehrerer Arbeitsschritte **WIE KANN ICH HELFEN - positiv verstärken, nicht kritisieren (das Kind bemüht sich!) - konstruktive Rückmeldung geben - Anschauungsmaterial, Bilder, u.a. als Hilfestellung - geeignete Stifte/Farben - Begrenzungslinien verstärken - Orientierungspunkte am Zeichenblatt/am Werkstück - Unterstützung beim Gebrauch von Werkzeug - vereinfachte Aufgaben anbieten - Arbeitsschritte mehrfach wiederholen - „Auftragskärtchen“ anfertigen, die jederzeit nachverfolgt werden können *BEWEGUNG UND SPORT Das Kind - ist unsicher in den Bewegungsabläufen - zeigt verlangsamte Bewegungen - zeigt unrhythmische Bewegungsabläufe - hat Schwierigkeiten bei Wurf- und Fangbewegungen - stößt oft mit anderen Kindern zusammen - findet sich bei Spielen in der Gruppe nicht zurecht - verliert bei Spielen/Übungen die Orientierung - kann Entfernungen nicht richtig einschätzen - kann Objekte und Personen im Umfeld nicht wahrnehmen und darauf reagieren, wenn es sich selber bewegt **WIE KANN ICH HELFEN - das Kind möglichst oft positiv verstärken, es leidet meist unter der Situation - Spiele für alle anbieten, die kein schnelles Reagieren erfordern - Bewegungsspiele in Kleingruppen - Vermeiden von Ballspielen mit Gewinnern und Verlierern - Fangen und Werfen mit geeigneten Bällen erlernen (größer, farbiger, auffälliger) - keinen Zeitdruck ausüben (Wettspiele) - beim Teamsport farbige Jacken/Bänder - Markierungen im Raum um die Orientierung zu erleichtern *SOZIALE KOMPETENZ UND KOMMUNIKATION Das Kind - erkennt bekannte Personen nicht - erkennt Personen nicht aus einer Gruppe heraus - reagiert nicht adäquat auf Gestik und Mimik - erscheint unfreundlich/grüßt nicht - spricht niemanden an - lehnt Gruppenarbeiten ab - findet keine Partnerinnen/keine Partner bei Gruppenarbeiten und Spielen - weiß nicht, wo sein Platz ist - zeigt ungewöhnliche Reaktionen - hat eine lange Reaktionszeit **WIE KANN ICH HELFEN - selbst auffällige Merkmale einsetzen (Kleidung, Frisur, Schminke) - Sessel und Arbeitsplatz deutlich erkennbar machen - fixen Platz zulassen - Garderobenplatz/Spind markieren - gelenkte Partnerwahl - Rollenspiele in Kleingruppen, um sicherer in der Kontaktaufnahme zu werden - um Hilfe fragen lernen/unnötige Hilfe höflich ablehnen - Reihenfolge festlegen (z.B. in einem Spiel, bei einer Vorführung) - verbale Unterstützung bei mündlichen Arbeiten (z.B. Ankünden, wer an der Reihe ist) - unterstützende Materialien für Mimik und Gestik 2.6 Praktische Umsetzung im Unterricht Was im vorigen Kapitel konkret zu den einzelnen Gegenständen vorgeschlagen wurde, wird im Folgenden im Rahmen von Unterrichtsprinzipien, methodisch-didaktischen Maßnahmen und Strategien zum Ausgleich des Nachteils beschrieben. *Unterrichtsprinzipien - Verbalisieren von schriftlichen Informationen (z.B. an der Tafel, auf Arbeitsblättern) - klare Aussprache, Erklärungen bei Bedarf wiederholen - Arbeitsschritte trainieren, planmäßiges Arbeiten üben - Lern- und Arbeitstechniken trainieren - Individualisierung - Auswahlmöglichkeiten anbieten - Anpassung an die Leistungsmöglichkeit - alternative Aufbereitung des Lehrstoffes - Berücksichtigung der besonderen Problematik aufgrund der Wahrnehmungsdefizite *Gestaltung des Klassenraumes/Schulhauses - Arbeitsplatz in der ersten Reihe/zentral zur Tafel - günstige Licht- und Beleuchtungsverhältnisse - Blendung und Gegenlicht vermeiden - Arbeitsumgebung übersichtlich gestalten - Materialien/Unterrichtsmittel übersichtlich ordnen - „Überdekoration“ und Reizüberflutung vermeiden - Präsentationsplätze mit unifarbigem Hintergrund - farbliche Gestaltung der Umgebung - Markierung der Stufen und Wege Weitere Tipps unter www.optic-comenius.eu *Lernumgebung - für ein möglichst ruhiges, angenehmes Umfeld sorgen - Lärmpegel reduzieren - wenig Ablenkung durch andere Einflüsse - Arbeitsplatz abschirmen (Verwendung von Raumteilern, Ecken) - Ordnung am Arbeitsplatz schaffen - Arbeits- und Sozialform den Erfordernissen anpassen ´*Methodisch-didaktische Maßnahmen - individuelle Annäherung an Bilder und Objekte ermöglichen - kontrastreiches Tafelbild auf sauber gewischter Tafel - Tafeltext diktieren oder als Arbeitsblatt vorlegen - Lineatur-Sonderdrucke - geeignete Stifte für einen guten Kontrast - Kopien auf weißem oder blendfreiem Papier - matte Folien zum Laminieren verwenden - Arbeitsblätter und Aufgabenvorlagen vergrößern - Schriftart, Zeilenabstand und Laufweite anpassen - Adaptierung der Arbeitsblätter (z.B. kontrastreich, gut strukturiert, vereinfacht) - komplexe Unterrichtsmaterialien vereinfachen - Auswahl und Reduzierung der Aufgaben - Zeitzugaben gewähren *Leistungsbeurteilung - individuelle Lernfortschritte bewerten - alternative Formen der Leistungsüberprüfung anwenden - besondere Berücksichtigung individueller Stärken - Zeitzugaben bei schriftlichen Arbeiten (z.B. Schularbeiten, Tests, LZK) 2.7 Hilfestellungen und Hilfsmittel Die individuell angepasste optische Versorgung ist die Grundvoraussetzung - optische Brille, Bifokalbrille, Lichtschutzbrille, Kantenfilter, Visolettlupe, ... *Arbeitsplatz - blendfreie Beleuchtung, Einzelplatzleuchte - reizarme Umgebung („Kojen“, Nischen) - Tischplatte schräg gestellt oder Schrägpult Abb. 26a, 26b: Zwei Kinder bei der Arbeit am Schrägpult. Vergrößerte Speziallineatur, Schrift mit dickem Filzstift. *Lesen/Schreiben - Lesefenster, Lesestreifen - Hefte mit vergrößerter und farblich abgesetzter Lineatur - selbst hergestellte Speziallineaturen - Verwenden geeigneter Stifte (z.B. schwarzer Stift, radierbarer Filzstift) - Lesestein, Leselineal (optische Hilfsmittel) Abb. 27a, 27b: Zwei Schriftproben von Markus. Er konnte sich beim Schreiben im Heft gar nicht orientieren, die Linien waren zu dünn und zu unübersichtlich. Obwohl er mit schwarzem Filzstift schreibt, ist die Schrift kaum leserlich. Auf der Speziallineatur findet sich der Bub gut zurecht, er kann die Zeilen einhalten, das Schriftbild ist schöner, der Text besser zu lesen. Abb. 28a-c: Optische Sehhilfen (hier zur Vergrößerung von Text, Bildern und Karten in einem Lehrbuch) Abb. 28a: Leselineal, Abb. 28b: Lesestein, Abb. 28c: Leselupe mit Beleuchtung *Mathematik - spezielle Lineale und Maßbänder - starke Kontraste Abb.29a-c: Hilfsmittel für Mathematik Abb.29a: Speziallineatur, Abb. 29b: Zahlenstreifen, Abb. 29c: Lineale und Maßbänder für Sehbehinderte *Technische Hilfsmittel - elektronische Leselupen (auch mit Kamera) - PC mit betriebseigenen Anpassungen (erleichterte Bedienung) - geeignete Software (Vergrößerungsprogramm) - Monitor mit Schwenkarm - passende Tastaturen - Laptop, Tablet, iPad - Bildschirmlesegerät - Sprachaufnahmegerät - „sprechende Stifte“/Hörstifte - Smartphone (mit Sprachausgabefunktion) Abb. 30a-c: Elektronische Leselupen mit verschiedenen Farbeinstellungen. Abb. 30a: Echtfarbendarstellung, Abb. 30b: Gelbe Schrift auf schwarzem Hintergrund, Abb. 30c: Weiße Schrift auf blauem Hintergrund, stark vergrößert. Abb. 31a-c: Computertastaturen, die für sehbehinderte Anwender besonders geeignet sind. Abb. 31a: Tastatur mit hohem Kontrast, gelbe Tasten mit schwarzer, vergrößerter Aufschrift, Abb. 31b: Farbige Tastatur, besonders geeignet zum Erlernen des Zehnfingersatzes, Abb. 31c: Vereinfachte Tastatur mit großen, farbigen Tasten, deren besondere Anordnung die Bedienung erleichtert. Abb. 32a-c: Bildschirmlesegeräte mit Schwenkarm und Vergrößerungssoftware. Abb. 32a: Schüler beim Lesen eines Textes in Kontrastfarben (weiße Schrift auf schwarzem Grund), Abb. 32b: bei der Betrachtung geometrischer Formen und Abb. 32c: beim Lösen von Beispielen im Mathematikbuch. Abb. 33a, 33b: Kinder bei der Arbeit mit dem „Sprechenden Stift“ Abb. 33a: Lesen in einem Buch und Abb. 33b: Farb- und Formerkennung *Die Verwendung von Tablets oder iPads bietet für Kinder mit CVI viele Fördermöglichkeiten - Auge-Hand-Koordination - Formerkennung, Figur-Hintergrund-Unterscheidung - Zuordnung, Diskriminierung, Ordnen nach Größen - Buchstabieren, Lesen und Schreiben, Rechnen - Memoryspiele und Puzzles in verschiedenen Schwierigkeitsgraden - interaktive Bilderbücher - Apps (Application software) - Anwendungsprogramm Abb. 34 a-c: Kinder beim Arbeiten mit dem App Lilly & Gogo Auch zur Gesichtserkennung lassen sich Tablet und iPad einsetzen, durch die Kombination visueller und auditiver Eindrücke bieten sich viele Möglichkeiten. *Vorschläge für das Erkennenlernen von Gesichtern - Gesichterpaare zuordnen - Erfassen der Gesichtszüge taktil und in Bildern - Unterscheiden und Wiedererkennen von Gesichtsausdrücken - Spiele mit dem Spiegel - Zeichnen und Ergänzen von Gesichtern - „Verkleiden“ spielen/Verkleidungen erkennen und interpretieren. Wie sieht man mit anderer Frisur, Kopfbedeckung aus? Abb. 35a, 35b: Gesichtserkennung mit Fotos und Tablet Abb. 35a: Ein Bub ordnet gleiche Fotopaare zueinander, die Gesichter von Familienmitgliedern zeigen. Abb. 35b: Fotos von Personen auf dem Tablet sollen vom Kind wiedererkannt werden. 2.8 Berichte 2.8.1 Kein Problem zu Hause Teambericht: Mutter, Klassenlehrerin und Sehbehindertenpädagogin Samuel besucht derzeit die 3. Klasse Volksschule. Er hat eine medizinisch sehr schwierige Kleinkindzeit hinter sich. Für seine Eltern ist es ein Geschenk, dass ihr Sohn Samuel am Leben ist und sich allen Prognosen zuwider gut entwickelt hat. Bei der psychologischen Diagnostik wird er als durchschnittlich intelligentes Kind mit cerebralen Verarbeitungsproblemen und einem gewissen Rückstand in der psycho-sozialen Entwicklung beschrieben. Die Eltern wollten einen Bericht schreiben, zogen aber dann zurück, weil Samuel für sie als Einzelkind „so ist wie er ist“ und mit seinem „Sosein“ auch die Familie prägt. Sie meinten, dass sie über Samuel nichts Besonderes schreiben könnten. Ähnliches berichtete auch die mobile Sehbehindertenlehrerin, die wöchentlich zu ihm an die Schule kommt. In der Einzelförderung gibt es keinerlei Probleme. Seine Klassenlehrerin, Frau G., schickte uns folgenden Bericht: Samuel ist ein sehr aufgeschlossenes und lebensfrohes Kind. Er geht ohne Probleme auf Menschen zu und bindet sie an sich. Sobald er einen Druck - welcher Art auch immer - verspürt, hängt es sehr von der Tagesverfassung ab, wie er damit fertig wird. Er braucht sehr lange Zeit, um mit vergangenen Problemsituationen abschließen zu können. Er wärmt alte Geschichten immer wieder auf und knüpft sie an Banalitäten. Samuel braucht sehr klar definierte Regeln und Tagesabläufe (Rituale). Sobald diese aus dem Gleichgewicht sind, gibt es lautstarken Protest. Besondere Stresssituationen sind grundsätzlich Wandertage, Ausflüge und für ihn nicht vorhersehbare Aktivitäten. Die Ausdauer bei der Arbeit konnte er steigern - natürlich wieder abhängig von der Tagesverfassung. Große Probleme gibt es immer wieder beim Erlernen von neuen Lerninhalten (z.B. Malreihen). Er braucht eine lange Phase, um sich einzuarbeiten, obwohl er es im Prinzip von Anfang an verstanden hat. Samuel ist vom Hören überempfindlich - bei Lärm hält er sich sofort die Ohren zu. Bis zu einer halben Stunde im Vorhinein beschäftigt ihn das kommende Läuten des Pausengongs. In dieser Zeit ist dann nichts mit ihm „anzufangen“. Turnstunden stellen für ihn eine ziemliche Überforderung dar, da er Lärm gekoppelt mit Bewegung und Schnelligkeit schwer verkraftet. In der ersten und zweiten Klasse sind die Schulbücher prinzipiell mit großer Schrift verfasst. Extralektüre (z.B. „Kleines Volk“) - mit normaler Schriftgröße - bereitet ihm Schwierigkeiten beim Lesen, besonders im Lesefluss. Das Leselineal nimmt er nur dann zu Hilfe, wenn man ihn daran erinnert. Damit liest er deutlich schneller und besser. Große Freude und Erleichterung ist immer die Arbeit mit seiner Sehbehindertenlehrerin, weil sie auf seine individuellen Bedürfnisse eingehen kann (z.B. das Erlernen des Zehn-Fingersystems am Computer). Er erledigt seine Aufgaben um einiges schneller, wenn er den zweiten Teil seiner Arbeit zur „Belohnung“ am Computer schreiben darf. Das gleiche Prinzip gilt auch für zu Hause beim Erledigen seiner Hausaufgaben. 2.8.2 Mein besonderes Kind Matthias Teambericht: Mutter, Klassenlehrerin, Augenärztin „In der Schwangerschaft habe ich mir oft gedacht, ich wünsche mir ein Kind, das besonders ist. Welche Mutter nicht? Dass mein Matthias ein Kind mit besonderen Bedürfnissen wird, hätte ich mir da nie vorgestellt.“ Pünktlich zum Termin kam Matthias im Jahr 2000 als unser erstes und einziges Kind zur Welt. Gleich als wir Matthias gesehen haben, sind uns in seinen damals blauen Augen auf beiden Seiten weiße Flecken aufgefallen, wir hatten aber noch nichts Schlimmes gedacht. Am nächsten Tag kam die Kinderärztin und hat mir zu verstehen gegeben, dass diese Flecken in den Augen nicht normal sind. Bald war klar, er hat auf beiden Augen ein Kolobom. Bei diesem Kolobom handelt es sich um eine seltene Fehlbildung des Auges. Dann kam die nächste Katastrophe: Matthias hörte am 7. Tag einfach zu atmen auf, sein erster Epi-Anfall, es sollten noch viele folgen, bis er im Alter von 14 Tagen einen Status Epileptikus hatte und in den künstlichen Tiefschlaf versetzt wurde. Keiner der Ärzte konnte uns Auskunft über seine Chancen geben, nicht einmal wie lange er noch leben würde. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen folgte. In den ersten beiden Jahren war Matthias sehr oft krank. Er schlief höchstens 9 bis 10 Stunden, den Rest verbrachte er meist schreiend, manchmal bis zu 3 Stunden durchgehend pro Tag. Heute weiß ich, dass ein Großteil dieses Schreiens auf seine Informationsverarbeitungsstörung zurückzuführen war. Er fand sich in unserem Leben einfach nicht zurecht. Im Laufe der Entwicklung merkten wir erst, dass er mit allen Reizen, denen er ausgesetzt war, völlig überfordert war. Auch heute noch zeigt er seine Überforderung und reagiert in vielen Situationen sehr angespannt. Wir machten einen straffen Tagesplan und so sahen wir erstmals Entwicklungsschritte. Matthias konnte in einem geschützten Rahmen aufwachsen. Das Schreien wurde weniger, er schlief noch immer wenig, dafür aber relativ regelmäßig. Die Grundstruktur dieses Tagesplans existiert noch immer und ist nach wie vor eine Notwendigkeit und große Hilfe für Matthias. Bis zum Schuleintritt besuchte uns regelmäßig eine Sehfrühförderin vom Verein Contrast. Als wir merkten, dass sich Matthias immer nur auf eine Sache konzentrieren kann, suchten wir Bilderbücher, auf denen pro Seite nur ein Tier oder ein Gegenstand zu sehen war. Am besten war es mit einen weißem Hintergrund. Wenn in einem Bilderbuch zu viel auf einer Seite abgebildet war, konnte sich Matthias kaum auf etwas konzentrieren. Er konnte auch keinen bestimmten Gegenstand, wie zum Beispiel ein Auto, finden. Mit sechs Jahren kam Matthias in eine Schule für körperbehinderte Kinder, da er auch motorische Einschränkungen hat. Zu diesem Zeitpunkt war uns die Sehbehinderung nicht wirklich bewusst, denn zuhause konnte er sich in den bekannten Räumen frei bewegen und gut zurechtfinden. Die Wohnung haben wir in den ersten Jahren kaum verlassen, da Matthias dann getobt und geschrien hätte. Nach eineinhalb Jahren war der Schuldruck zu groß geworden. Matthias fiel in kleinkindliche Verhaltensmuster zurück und zupfte sich die Haare aus. Nach einigen Monaten wechselte Matthias in das Bundes-Blindeninstitut Wien. Matthias entspannte sich und wurde wieder ruhiger. Weiterhin war es für ihn sehr wichtig seinen klaren Tagesplan zu haben: „Und dann? Und dann?“ Bis ins kleinste Detail musste er den Ablauf am Vormittag wissen. Gemeinsam (Mutter und Pädagogin) wurde anfangs ein Plan ausgearbeitet. Allmählich konnte er sich Stück für Stück von seiner Starrheit lösen und auch „ungeplante“ Situationen gut annehmen. Bestimmte Tagesrituale behielten wir bewusst, denn diese halfen ihm, besonders Stresssituationen gut zu bewältigen. Die Mitschüler nahmen Matthias mit all seinen Besonderheiten gut auf und so ging auch er nach und nach auf diese zu. Immer wieder verblüffte Matthias mit seiner Sehleistung. Einerseits fand er die noch so kleinen und fast unscheinbaren Dinge am Boden, andererseits konnte er viele Bilder nicht erkennen beziehungsweise nicht zuordnen. Die große Erleichterung kam, als die Augenärztin Frau Dr. Gruber ihn testete: Matthias hat CVI! Das Team (Eltern, Augenarzt, Pädagogin) arbeitet sehr eng zusammen, sodass Matthias „Eigenwilligkeiten“ gut angenommen werden können. Matthias kann nur einen Sinneskanal öffnen: entweder sehen oder hören, gleichzeitig ist es ihm nicht möglich. Dies zu berücksichtigen und in den pädagogischen Alltag einzubauen war anfangs eine Herausforderung. Matthias ist sehr „arbeitseifrig“, allerdings lässt er sich bei jedem noch so leisen Geräusch ablenken. Puzzle legen, zuordnen, Bilder erkennen - wenige Minuten kann Matthias konzentriert arbeiten. Lautes Lachen seiner Mitschüler kann für ihn sehr irritierend wirken. Feste, vor allem Fasching oder Weihnachtsmarktbesuche stellen durch die massive Reizüberflutung eine große Belastung für ihn dar. Im Treppenhaus steht Matthias oft und wartet. Er wartet darauf, dass das Stiegenhaus frei ist und er alleine weitergehen kann, denn andere Personen, egal ob Kinder oder Erwachsene, in seine Richtung gehende oder entgegenkommende, würden ihn zu sehr ablenken. Eine große Herausforderung war unsere gemeinsame Schullandwoche: Matthias mit Mama, Klassenlehrerin und Klassenfreunde. Trotz fremder Umgebung, anderer Regeln und Abläufe, nahm Matthias bei allen Aktivitäten teil! Die Sicherheit, die wir ihm geben konnten und seine emotionale Stabilität, die Stütze durch die soziale Gruppe, das gegenseitige Vertrauen, all dies hat diese Woche zu einem unvergesslichen Abenteuer gemacht! Wenn man weiß und erkennt welche Bedürfnisse Matthias hat, wenn man das „Einkanalsystem“ berücksichtigt, wenn man seine Eigenheiten nicht als störend empfindet, dann ist Matthias eine große Bereicherung! 2.8.3 Meine Tochter Flora Reingard Schott Flora kam im März 2000 als Frühchen in der 26. SSW zur Welt. Flora ist 14 Jahre alt und besucht derzeit das Odilien-Institut in Graz. Auf Grund einer Infektion im Gehirn kam es zu Komplikationen kurz nach der Geburt (Hydrocephalus) und damit zu ihrer Mehrfachbehinderung. Flora entwickelte sich sowohl motorisch als auch kognitiv deutlich verzögert, trotz entsprechenden therapeutischen und ärztlichen Maßnahmen. Im Kleinkindalter war ihr Sehvermögen sehr schwierig einzuschätzen, da sie sich verbal noch nicht entsprechend ausdrücken konnte. Erst später konnte die niedrige Sehschärfe festgestellt werden. Ihr CVI wurde erst im CVI-Forschungsprojekt klar erkannt. Dass Flora - im Vergleich zu anderen Kindern ihres Alters - ihre visuellen Erfahrungen individuell verarbeitete, wurde erst im Kindergartenalter deutlicher. So hatte Flora mit klaren einfachen Symbolen (Kreis, Viereck, Dreieck) keine großen Probleme. Bilderbücher mit komplexeren Bildern waren dagegen oft schon eine große Herausforderung, Wimmelbilder völlig uninteressant. Bei den Grundfarben (Gelb, Rot, Blau, Weiß, Schwarz) hatte sie keine allzu großen Probleme, bei Mischfarben war das schon anders. Flora deutete z.B. alles, was für sie rund und gelb war, als Sonne, oder alles, was vier Beine hatte, als Katze. Details auf Bildern, die Normalsichtigen als eindeutige Merkmale zur sicheren Unter-scheidung dienen, kann Flora bis heute oft noch nicht richtig erkennen. Später, in der Volksschulzeit war für Flora das Erlernen der Zahlen und Buchstaben (eindeutige klare Symbole) keine große Herausforderung, im Gegenteil, sie liebte es, mit Buchstabenkarten Wörter und Sätze zu legen. Auf Grund ihrer beeinträchtigten Auge-Hand-Koordination begann sie aber erst in der 3. VS-Klasse einigermaßen leserlich mit der Hand zu schreiben, bis dahin arbeitete sie am PC. Flora schreibt auch heute noch ihre Texte ausschließlich in Großbuchstaben. Druckschrift oder Schulschrift ist für sie schon zu komplex zum Schreiben, bei entsprechender Schriftgröße kann sie diese aber lesen. Zum flüssigen Lesen benötigt Flora prinzipiell eine große Schrift mit klar gegliederten Texten, wenigen Worten in der Zeile und vergrößertem Zeilenabstand. Sonst ermüdet sie schnell und ihre Konzentration lässt deutlich nach. Auf Grund dieser Tatsache stößt man im schulischen Bereich ziemlich schnell auf Hürden. Die Textgröße in Schulbüchern war gerade noch in der 1. VS-Klasse für Flora adäquat, im Laufe ihrer Schullaufbahn wurde das immer mehr zum Problem, da die Texte immer kleiner und weniger gegliedert sind und viel Bildmaterial vom Wesentlichen ablenkt. In den gängigen Schulbüchern sind sehr viele Aufgaben mit Bildern gestaltet oder Arbeitsaufträge sind überhaupt in die Bücher zu schreiben. Eine für Flora meist unmögliche Aufgabenstellung, da selten genug Platz für ihre individuelle Schriftgröße vorhanden ist. Schulbücher und andere Lernunterlagen werden für Flora zwar vergrößert, das Format muss dann aber so groß gewählt werden (A3), dass Flora - wegen ihrer motorischen Einschränkung - durch die Unhandlichkeit dieser riesigen Materialien sehr beeinträchtigt und immer wieder auf fremde Hilfe angewiesen ist. Diese Abhängigkeit und die damit verbundene Unselbstständigkeit stellt für Flora, die ja sehr ehrgeizig ist, eine generelle Problematik dar – vor allem auf sozialer und emotionaler Ebene, da sie sich im Vergleich zu anderen Kindern oft benachteiligt und ausgegrenzt fühlt! Viele individuelle Verhaltensweisen und Reaktionen von Flora wurden erst durch das Forschungsprojekt „CVI“ für uns erklärbar. Zum Beispiel ihr Orientierungssinn, Flora benötigt sehr lange, bis sie sich in unbekanntem Umfeld zurechtfinden kann, eine für sie überschaubare „Infrastruktur“ (kleine Einheiten), erklärende Worte und vor allem Geduld erleichtern ihr allerdings die Bewältigung dieses Problems. Trotzdem ist Flora nicht in der Lage, sich alleine im öffentlichen Raum zurechtzufinden, sie wird vermutlich immer Begleitung nötig haben. Ganz besonders möchte ich hier erwähnen, dass viele Spezialisten, Ärzte (auch Augenärzte), Gutachter, Pädagogen, usw., keine Ahnung von CVI und den damit verbundenen Auswirkungen für die betroffenen Kinder und die betreuenden Personen haben. Vor allem im Schulbereich wurden wir - trotz intensiver integrativer Bemühungen - mit großem Unverständnis, Unwissenheit und enormen bürokratischen Hürden konfrontiert. Nicht Bescheid wissen bezüglich CVI und die damit fehlenden Kompetenzen im pädagogischen Umgang mit Kindern mit dieser Behinderung führt sowohl zu Über-, aber auch zu Unterforderungen. So war es nicht zu verhindern, dass Flora in ihrer Schullaufbahn deswegen zweimal die Schule wechseln musste! Eine traurige Bilanz für unser österreichisches Schulsystem. Auf Grund meiner eigenen negativen Erfahrungen plädiere ich für eine entsprechende Aus- und Weiterbildung für alle Pädagogen, auch Kindergartenpädagogen, um eine möglichst frühe Förderung durch entsprechende Sensibilisierung, Diagnostik und Aufklärung aller Beteiligten zu ermöglichen! Ich wünsche mir auch entsprechend „reduzierte“ Schulbücher für Kinder mit CVI, die von diversen „motivierenden“ grafischen Überangeboten entrümpelt sind. Ich denke, dass auch Kinder ohne Einschränkungen davon profitieren können, viele leiden sowieso an Reizüber-flutung. (ADHS) Ich kann mir hier auch nicht verkneifen, die Sinnhaftigkeit des aktuellen Schulbuches - konzipiert als Arbeitsbuch - in Frage zu stellen und die daraus resultierende Einstellung bei Schülern zum Wert eines Buches? Wozu gibt es Hefte? Meine Einschätzung: Flora scheint generell Erlebtes als emotionalen und akustischen Gesamteindruck im Kopf abzuspeichern, nicht als etwas visuell Erfasstes. Für uns „Normalsehende“ schwer vorstell- und nachvollziehbar, da unsere Gesellschaft hauptsächlich visuell geprägt ist. Kinder mit CVI haben sehr unterschiedliche individuelle Bedürfnisse, die jeweils aus den in Mitleidenschaft gezogenen Hirnfunktionen resultieren. Ein häufiger Wechsel von außerfamiliären Bezugspersonen sollte auf jeden Fall vermieden werden, um diese Kinder erfolgreich im Schulsystem eingliedern zu können. Ein „Shadow“, der genau die Stärken und Schwächen dieser Kinder kennt und auch ihre Entwicklungsschritte „miterlebt“, kann sicher einen wertvollen Beitrag leisten, vor allem als vertraute Bezugsperson und als Bindeglied zwischen familiärem und schulischem Umfeld, speziell während den Übertrittsphasen Kindergarten - Volksschule - weiterführende Schule - Arbeitswelt. Ich freue mich daher sehr über das Interesse des Bundesministeriums zum Thema CVI und hoffe, dass in naher Zukunft für betroffene Kinder ein besser geeignetes schulisches System zur Verfügung steht! 2.8.4 Zuhören ist seine große Stärke Maria Deutsch Unser Sohn Martin (mittlerweile fast 17 Jahre), Frühgeburt 31. Woche, wurde nach drei Monaten Intensivstation mit der Diagnose PVL spastische Tetraplegie aus dem Krankenhaus entlassen. Außer seiner körperlichen Einschränkung (sitzt im Rolli) ist auch sein Sehvermögen sehr eingeschränkt (Sehschärfe und CVI). Im Alltag muss man ihn immer wieder verbal unterstützen: „Bitte schau hin!“, z.B. beim Essen, dass er schaut wo das Essen ist und gezielt den Löffel einsetzt, beim Spielen z.B. „Schau, welche Karte fehlt!“. Dies funktioniert nur über Kommunikation, nicht aus Eigeninitiative. Beim Fernsehen liegt er am Boden und hebt nur ab und zu den Kopf um hinzuschauen (ist mehr Fern-Hören, er schaut DVDs des Öfteren an, um dem Inhalt zu folgen). In der Schule muss man ihn immer wieder motivieren, da die Konzentrationsdauer doch eher gering ist. Beim Rollstuhlfahren fährt er ein bisschen und dann schaut er wieder, wo er hin muss. Beides gleichzeitig zu koordinieren funktioniert nicht. Dadurch ist es für ihn natürlich schwierig sich zu orientieren. Auch wenn wir spazieren gehen, betrachtet er nicht wirklich das Umfeld. Die bewegten Bilder nimmt er wieder nur wahr, wenn wir stehen bleiben. Bei ihm funktioniert das Ineinandergreifen der verschiedenen Sinne leider nicht, entweder "schaut er" oder "tut er". Martin selber sagt, dass er sehr gut zuhören kann und dadurch einiges ausgleicht und sich in Gesellschaft sehr wohl fühlt und durch sein gutes Sprachvermögen ist er auch sozial gut integriert. Aber wir sind sehr froh, dass wir an diesem CVI Projekt teilnehmen konnten. Durch diese Untersuchungen wurden uns seine Wahrnehmung und das Sehen erst bewusst. Danke an das ganze Team! 2.8.5 Das Positive an der Prosopagnosie Alexander Avian Prosopagnosie - eine Diagnose, die für Außenstehende nur schwer zu verstehen ist. Wenn ich mit jemanden über dieses Thema spreche, und ihr/ihm erkläre, was Prosopagnosie ist, erhalte ich oft als Antwort, dass diese Person bereits auch einmal eine andere Person nicht erkannte. Die Tatsache, dass dieses Erlebnis, einmal eine andere Person nicht erkannt zu haben, jeder kennt, macht es einerseits vielen Außenstehenden schwer zu akzeptieren, dass es die Prosopagnosie wirklich gibt, und andererseits liefert es Betroffenen eine Erklärung dafür, dass sie andere nicht erkennen. Dadurch leben auch viele Personen mit Prosopagnosie, ohne zu wissen, dass sie eine Prosopagnosie haben. Ich bin erst im Laufe meines Psychologiestudiums auf das Thema Prosopagnosie gestoßen und bemerkte dadurch, dass meine Gesichtswahrnehmung nicht normal ist. Es fiel mir dann auch nicht schwer, mich an Situationen zurückzuerinnern, in denen ich offensichtlich durch meine Prosopagnosie beeinträchtigt wurde. Eine der frühesten Erinnerungen spielt in meiner Kindheit. Ich ging mit meinem Vater spazieren und lief auf eine Frau zu, die ich für meine Mutter hielt – da ihre Statur und ihre Kleidung der meiner Mutter ähnelten. Wie ich dann bemerkte, handelte es sich nicht um meine Mutter. Ein weiteres markantes Erlebnis war, als ich - bereits als Jugendlicher - Passbilder bei einem Fotografen abholte und die Person auf den Bildern nicht als meine eigene Person identifizierte; ich dachte, dies müsse mein Bruder sein. Da ich immer wieder damit konfrontiert war, dass mich Personen ansprachen, die ich nicht kannte und es mir peinlich war, zugeben zu müssen, dass ich meinen Gesprächspartner nicht erkenne, habe ich versucht im Gespräch herauszufinden, mit wem ich redete, was zum Teil zu Verwechslungen führte und somit wiederum in einer peinlichen Situation resultierte. Mein Gegenüber versuchte ich anhand der Statur, der Sprache, des Dialektes und des Gesprächsinhaltes zu identifizieren bzw. einzuschränken, wer es sein könnte. Ein Bereich, der mir immer Probleme bereitet, sind Filme. Wenn ich einen Film sehe, und wichtige Schauspieler haben ähnliche Frisuren und eine ähnliche Statur, dann kann es sein, dass ich diese Personen nicht unterscheiden kann. Dabei hilft mir dann zumeist meine Frau, die ich dann kurz frage, wer diese Person ist. Generell kann eine informierte Umgebung sehr hilfreich sein. Einerseits, wenn andere wissen, dass ich sie nicht immer erkenne, können sie entsprechend darauf reagieren, ohne verwundert zu sein, und andererseits hilft es, wenn „eingesagt“ wird. Wenn wir zufällig Bekannte treffen, sagt mir meine Frau leise ein, wer gerade näher kommt. Ebenso kann Kindern geholfen werden. Es kann ihnen zuvor gesagt werden, wer sich nähert oder die annähernde Person kann auch mit dem Namen begrüßt werden. Meine Tochter hat ebenso eine Prosopagnosie. Bereits bevor sie in den Kindergarten ging, wussten wir, dass sie eine Störung der Gesichtswahrnehmung hat und sprachen mit ihr darüber. Wir informierten auch die Kindergartenpädagoginnen. Meine Tochter wusste daher von Beginn an, dass sie Hilfsmittel suchen muss, um die anderen Kinder zu erkennen. Zunächst versuchte sie es anhand der Kleidung, was aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht sehr erfolgreich war. Schließlich konzentrierte sie sich auf die Hausschuhe der anderen Kinder, da diese nicht täglich gewechselt werden. Beim Faschingsfest, als alle anderen Kinder Probleme hatten, sofort zu wissen, welches Kind sich unter welcher Verkleidung versteckte, wusste es meine Tochter sofort – da alle auch mit der Verkleidung ihre Hausschuhe trugen. Somit war die Prosopagnosie für sie in dieser Situation ein Vorteil, da sie nicht auf das Gesicht der anderen angewiesen war. Die generelle Regel „Sprich nicht mit Fremden“ oder „Geh nicht mit Fremden mit“ stellt für Kinder mit Prosopagnosie ein Problem dar. Personen mit Prosopagnosie – nicht nur Kinder – sind es gewöhnt, dass sie von Fremden angesprochen werden. Später stellt sich dann heraus, dass diese Fremden bekannte oder sogar befreundete oder verwandte Personen sind. Für Kinder kann in solchen Situationen ein „Code“ hilfreich sein, ein Wort, dass mit dem Kind vereinbart wurde und dass jede/r kennt, die/der das Kind vom Kindergarten/von der Schule abholen darf. Wir haben auch darauf verzichtet den Namen unserer Tochter in ihre Kindergartentasche zu schreiben, da sie annehmen muss, dass sie jede Person kennen sollte, die sie mit Namen anspricht. Stattdessen finden sich nur unsere Handynummern am Namensschild. Das Positive an der Prosopagnosie ist, dass ich fast täglich Fremde treffe, die mich freundlich grüßen! 2.8.6 Wo bin ich? Eva-Maria Michule Ich denke, also bin ich – aber wo genau? Dass mein Orientierungsvermögen nicht das Beste ist, wurde mir schon früh klar. Erstmals als ich mich im Alter von sechs Jahren mit den Worten „Ich gehe schnell zu Papa!“ von meiner Mutter verabschiedete. Mein Vater stand nur einige Meter weiter und zwar neben einer riesigen Hüpfburg, in der mein Bruder bereits herumtobte und in die ich folglich auch wollte. Leider musste ich mir etwa zwei Stunden später ? in dem angrenzenden Wald und von der Dämmerung bedroht ? eingestehen, dass ich es irgendwie geschafft hatte, mich zu verlaufen. Zum Glück fanden mich zwei nette Damen und endlich auch meine Eltern. Heutzutage wundert sich bedauerlicherweise niemand mehr, wenn ich alleine unterwegs bin, weshalb ich mit meiner Orientierungslosigkeit allein bin. Außer ich werde nach dem Weg gefragt, dann müssen auch andere darunter leiden. Ich werde immer noch von dem Gedanken verfolgt, dass ich eines Tages den Mann wiedertreffen könnte, dem ich die Anweisung gab in die Straßenbahn 62 einzusteigen, um nach Hietzing zu kommen. Völlig sicher war ich mir, wo ich doch täglich mit eben dieser Bim zur Arbeit fahre. Man kann nur mutmaßen, wann der Arme herausgefunden hat, dass er am falschen Ende Wiens ist. Seit diesem Vorfall gebe ich natürlich keine „völlig sicheren“ Auskünfte mehr. Stattdessen hole ich fachmännisch mein Handy mit GPS-Funktion aus der Tasche, wenn ich nach dem Weg gefragt werde und verwandle mich augenblicklich zum Navigationsgenie. Mein Handy kommt auch dann zum Einsatz, wenn ich selbst wieder mal nicht weiß, wo ich gelandet bin. Ohne das integrierte Navigationssystem würde ich womöglich immer noch in den (zugegebenermaßen sehr begrenzten) Wäldern meines Heimatdorfes umherirren, nachdem ich den genialen Gedanken hatte, mit meinem Hund eine vermeintliche Abkürzung zu nehmen, die meinen Weg im Endeffekt um eine Stunde verlängerte. Leider ist selbst GPS keine Hilfe, wenn man gar nicht weiß, wo man überhaupt hin will. So fasste ich an einem verhängnisvollen Nachmittag den Entschluss lieber nicht auf eigene Faust quer durch Wien zu fahren, sondern doch besser die „Öffentlichen“ zu nehmen, weshalb ich mein Auto spontan in einer Seitengasse parkte. Leider vergaß ich nicht nur den Namen der Gasse, sondern auch den der angrenzenden U-Bahn-Station. Ein Glück nur, dass Orientierungsvermögen wohl nicht erblich ist. Mit der Hilfe meines Vaters, den man mit einem Sonnenhut in der Wüste aussetzen könnte und einen Tag später beim Grillen der erlegten Beute im hauseigenen Garten wiederfinden würde, konnte ich meinen Weg rekonstruieren. Mit einiger Sucherei war es so möglich, meinen Wagen dann doch noch wiederzufinden ? eine Woche später, versteht sich. Als Beifahrer lebt sich’s allerdings ohnehin sicherer.  Ich werfe meinem Freund zwar regelmäßig vor, er würde mich entführen, weil er mich in unbekannten Gefilden umherkutschiert, aber zumeist stellt sich hinter der nächsten Kurve doch heraus, dass es nur die Nebenstraße zu unserem Haus war. Es interessiert mich nämlich leider auch überhaupt nicht, wo was ist und wie man hinkommt. Sobald ich mich in Bewegung setze, ist alles Mögliche interessant: die Wolke, die aussieht wie ein Pelikan, welche Kekse ich am Nachmittag backen werde, der Beweis zur Überabzählbarkeit der Menge der reellen Zahlen. Falls sie den übrigens noch nicht kennen, suchen Sie nach Cantors zweitem Diagonalargument ? tolle Sache! Aber um wieder zum Thema zu kommen, was mich jedenfalls mit Bestimmtheit nicht interessiert, ist die Route. Nachdem es für mich bewusster Anstrengung bedarf, mir Wege einzuprägen, ist das natürlich ein Nachteil. Aber keine Sorge, mittlerweile habe ich alle Straßen um unser Haus herum mehrmals befahren, um mir einen Überblick zu verschaffen – von beiden Richtungen, denn mit der Fahrtrichtung ändert sich schlagartig das Aussehen aller Häuser und Gärten. Auch Tageszeit und Wetterbedingungen haben leider einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Erkennungsmerkmale, die ich mir systematisch einpräge.  Zu meinem Haus geht’s zuerst vor der Telefonzelle links hinein und dann bei dem leuchtenden Schild rechts in die Gasse, danach kommt das gelbe Gebäude links, mit dem grünen Zaun. Von der anderen Seite ist es schon komplizierter. Meine Freunde sind zum Glück mittlerweile alle im Bilde über mein Gebrechen und nehmen es mit Humor, indem sie mich in jeder Situation mit genauen Fahranweisungen beglücken. So brauche ich nicht in Panik zu geraten, wenn ich meine beste Freundin, die ich seit Jahren kenne, nach Hause bringe und nicht weiß, welches der Häuser denn nun tatsächlich das ihre ist – sie sagt es mir ohnehin. Beim Gedanken daran Chauffeur für nicht Eingeweihte zu spielen, deren Adresse ich kennen sollte, packt mich allerdings das kalte Grauen. Dass die Straße im September völlig anders aussieht als im August, als ich das letzte Mal zu Besuch war, ist für die meisten wohl eher unverständlich. Besonders schlimm wird es, wenn ich dann auch noch ins Haus eingeladen werde, denn hinaus finde ich eigenständig nur mit viel Glück. Wahrscheinlicher ist es, dass ich mich in der Rumpelkammer wiederfinde und dann Erklärungsarbeit leisten muss. Je größer das Gebäude und je gleichförmiger das Interieur, desto schlimmer ist es naturgemäß. Die Universität ist ein Labyrinth für mich, jede Vorlesung findet in einem anderen Saal statt und den muss man erst mal finden. Außerdem wird man gleich als Schwerverbrecher abgestempelt, wenn man erwischt wird, wie man mit Rucksack durch die Bibliothek irrt – den muss man vorher nämlich in einem Spind verstauen. Aber wie erklären, dass man nur falsch abgebogen ist, weil bei der Abzweigung rechts eine geschlossene Glastür war, die früher immer offen stand?  Gut, das Schild mit der Aufschrift „Bibliothek“ hätte diesen Widrigkeiten zum Trotz als Anhaltspunkt dienen können, aber wenn man eben gerade mit Wichtigerem beschäftigt ist …  So bleibt mir nur die Hoffnung, dass zur rechten Zeit am rechten Ort ein netter Mitmensch mir zuruft: „Quo vadis, Eva?“ und mich damit wieder auf den rechten Pfad bringt. 3 NEUROPSYCHOLOGIE 3.1 Das sehauffällige Kind aus (neuro-)psychologischer Sicht Bei Erwachsenen, die ein Gehirntrauma erlitten haben, können unterschiedliche visuelle Wahrnehmungsstörungen auftreten, die Agnosie (etwas nicht können) und Neglekt (ein Nicht-bewusstsein von Teilen des eigenen Körpers und der Umgebung) genannt werden. In der Entwicklung von Kindern mit CVI sind solche ausgeprägten und abgegrenzten visuellen Wahrnehmungsstörungen eher die Ausnahme. Die CVI-Problematik ist angeboren, während der Geburt oder im frühesten Kindesalter entstanden. Das kindliche Gehirn befindet sich in der Entwicklung und hat noch viele Kompensationsmöglichkeiten. Kennzeichnend für CVI scheinen einerseits ein verzögerter Beginn des Sehens und andererseits eine verzögerte Entwicklung der verschiedenen Teilfunktionen des Sehens zu sein. Manche Kinder können bei guter Förderung bis weit ins Grundschulalter hinein, sogar (sub-) normale visuelle Werte erreichen. Niederländische Kolleginnen haben untersucht und beschrieben, dass bei Kindern mit CVI ein Unterschied zwischen den Testergebnissen von Einzeloptotypen und Reihensehtests weitaus länger feststellbar ist, als bei Kindern mit normaler Sehentwicklung. Dies ist bei Kindern bis zum 6. Lebensjahr noch festzustellen (Kaufmann 2012, S. 96, S. 274ff). Bei vielen Kindern mit CVI gibt es diese Unterschiede oft viel länger. Die Testergebnisse der Einzel- und Reihenwahrnehmung zeigen, dass ein Bereich der visuellen Wahrnehmung nicht altersgemäß entwickelt ist. Diese Kinder brauchen oft klar strukturierte Abbildungen und/oder vergrößerte Lesetexte. Es ist möglich, dass sie am Anfang keine Gesichter erkennen und es später aber doch erlernen können. Es wird ein Zusammenhang zwischen der ungleichen Wahrnehmung von Einzel- und Reihenoptotypen (Fachleute nennen dies Crowding) und der Entwicklung von Aufmerksamkeitsfunktionen vermutet, was derzeit noch genauer untersucht und beleuchtet werden muss. 3.1.1 Die Aufmerksamkeitsfunktion (ICF* b140) Die Aufmerksamkeit ist eine sehr komplexe Funktion mit großer Auswirkung auf das Sehen. Ohne Aufmerksamkeit kann ein Kind nicht schauen. Diese Funktion besteht aus mehreren Teilbereichen, die sich in den ersten Lebensjahren entwickeln müssen. Für den Beginn der Entwicklung des Sehens ist die visuelle selektive Aufmerksamkeit wichtig: Wie nah dürfen visuelle Reize beieinander sein und wie viele dürfen es sein, um noch wahrgenommen zu werden? Bei Cerebralparese und bei verschiedenen Syndromen ist dieser Teil oft gestört und dies führt zu einer verzögerten visuellen Entwicklung. Kinder mit Anlagestörungen oder Kinder, die bei der Geburt Sauerstoffmangel (Asphyxie) erlitten haben, schauen nach der Geburt wenig oder gar nicht. Dies scheint unter anderem mit ihrer geschädigten visuellen selektiven Aufmerksamkeitsfunktion zusammenzuhängen. Bei der Förderung im Dunkelraum wird durch intensive Lichtreize gezeigt, wo hingeschaut werden muss, um so Sehreaktionen anzubahnen. Das Kind lernt seinen Blick auf Muster, Gesichter und Objekte zu richten. Mit zusätzlicher Beleuchtung und Kontraststeigerung kann das auch in die alltägliche Umgebung übertragen werden. So kann das Richten von Aufmerksamkeit im Rahmen der vorhandenen Sehschärfe weiter entwickelt werden. Gesichtsfeldproblematik und Aufmerksamkeitsfeldproblematik sind bei jungen Kindern nicht so einfach voneinander zu unterscheiden. Kinder beginnen bereits sehr früh Gesichtsfeld-ausfälle mit Kopfbewegungen zu kompensieren. Kinder mit Aufmerksamkeitsfeldverlust oder Neglekt hingegen haben kein Bewusstsein dafür, dass ihnen im Sehbereich etwas fehlt und kompensieren dies, wenn es ihnen bewusst beigebracht wird, ab dem Kindergartenalter oder erst viel später. Viele Kinder zeigen auch Probleme beim Verlagern des Blickes oder beim abwechselnden Richten ihrer visuellen Aufmerksamkeit: Zum Beispiel zwischen Details und dem Ganzen auf einem Bild, in einer Situation oder zwischen dem Buch/Computer und der Tafel. Das Richten und das Durchhalten der Aufmerksamkeit entwickeln sich erst später und kann ab dem Kindergartenalter gut beobachtet werden. Das Kind lernt einen Plan zu erstellen und ihn dann auszuführen. Vor allem bei Kindern mit Asphyxie kommt es oft beim Erlernen vom planmäßigen Richten der Aufmerksamkeit zu Problemen z.B. bei der Zeilenverfolgung beim Lesen. Kinder, die auch motorische Beeinträchtigungen haben, können die Blickbewegungen (und Kopfbewegungen) oft nicht so genau steuern, wie es für das Lesen und Schreiben nötig ist. Durch Computeranpassungen kann dies ermöglicht werden. Die Fähigkeit die Aufmerksamkeit geplant auf etwas zu richten (exekutive Funktionen) entwickelt sich im Laufe des Schulalters. CVI hängt vor allem mit schwacher visueller selektiver Aufmerksamkeit und dem Richten der Aufmerksamkeit zusammen. Vielen Kindern hilft es, wenn sie bei Aufgaben eine klare Anweisung zum Sehen bekommen und so Strategien für ihre Schulaufgaben erlernen. Störungen in der Aufmerksamkeit betreffen manchmal nicht nur die visuellen, sondern auch die übrigen sensorischen Funktionen. Aufmerksamkeitsstörungen können Teil eines allgemein fehlenden Planes im Handeln (man denke auch an ADHS, ADS oder Dysexekutive Syndrome) sein. Diese allgemeinen Störungen in der Aufmerksamkeitsfunktion werden nicht zu CVI gerechnet. 3.1.2 Visuelles Gedächtnis (ICF b144) Arbeits- und Langzeitgedächtnis sind wichtig, um wahrgenommene und erlernte Dinge zu speichern. Neben dem visuellen Gedächtnis ist auch das auditive Gedächtnis notwendig, um visuell unterschiedliche Dinge, z.B. Tiere oder Früchte, richtig zu benennen. Die Fähigkeit, die räumliche Umgebung aus dem alltäglichen Leben (eigenes Zimmer, Schulklasse oder Straße) zu speichern, muss untersucht werden. Genauso wichtig sind das Behalten von visuellen Sequenzen, die Reihenfolgen und der Zeitverlauf in der Wahrnehmung. Es besteht ein wesentlicher Zusammenhang zwischen Gedächtnisproblemen und Lese- und Lernstörungen. Vor allem das auditive Arbeitsgedächtnis und die rasche Verarbeitung von auditiven (Klang-)Sequenzen und die phonologische Verarbeitung sind entscheidend, ob Lesenlernen möglich ist. 3.1.3 Visuelle Wahrnehmung oder visuelle Perzeption und räumlich visuelle Wahrnehmung (ICF 1561 und 1565) Visuelle Perzeption wird als Schwerpunkt in der CVI-Problematik gesehen. * Gesichtswahrnehmung Bei vielen jungen Kindern scheint die Gesichtswahrnehmung durch zu niedrige Sehschärfe, schlechte Kontrastwahrnehmung und/oder selektive Aufmerksamkeitsprobleme behindert zu werden. Auf Grund von Crowding (eine nicht altersgemäße Unterscheidung zwischen Einzel- und Reihenoptotypen) liegen Gesichtsmerkmale wie Augen, Nase und Mund für sehr junge Kinder und Kinder mit CVI manchmal zu nah aneinander, um erkannt zu werden. Vermutlich sind sensorische Integrationsverarbeitungsprobleme und/oder die Aufmerksam-keitsentwicklung ? also die allgemeine Reizverarbeitung ? die Problematik, die dahinterliegt. Dies bessert sich mit der Zeit (irgendwann im Kleinkindalter wird es dann doch möglich). Eine Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) ist erst bei älteren Kindern feststellbar. Es muss zwischen angeborener ? meist vererbter Form ? und der durch eine Hirnschädigung erworbenen Form unterschieden werden. Gesichtserkennungsprobleme sind vor allem bei periventrikulärer Leukomalazie (PVL), die bei frühgeborenen Kindern auftreten kann, und bei Hydrozephalus bekannt. Das Interpretieren von Gesichtsausdrücken ist auch bei Kindern mit Störungen aus dem Autismus-Spektrum problematisch. * Form-Wahrnehmung Je kleiner das Gesichtsfeld, je niedriger die Sehschärfe und das Kontrastsehvermögen sind, desto mehr Zeit braucht ein Kind, um visuelle Erfahrungen zu machen. Es sind die gespeicherten inneren Bilder, die wiedererkannt werden. Das Erwerben dieser inneren Datenbank braucht Zeit und muss mit der Sprachentwicklung verknüpft werden. Neben eines Aufnahmeproblems durch sensorische Beeinträchtigungen wie Sehschärfe oder Gesichtsfeld, kann es sich aber auch um ein visuelles oder auditives Speicherungsproblem handeln oder um eine Kombination dieser Problematiken. Viele Kinder erkennen Formen meist nur so, wie sie diese erfahren, angelernt haben oder wie sie am öftesten abgebildet sind. So wird beispielsweise ein Tier oder Verkehrsmittel oft von der Seite dargestellt. Werden solche Objekte oder Formen von vorne oder von einem anderen Blickwinkel dargeboten, dann können diese nicht erkannt werden. Diese Objektkonstanz ist die Basis für räumliche Wahrnehmung in Zusammenhang mit der visuellen motorischen Integration und dem Gedächtnis von Situationen und Orientierungspunkten. Andere Kinder entwickeln zwar Formkonstanz, können aber visuelle Komplexität nicht gut verarbeiten. Die Menge von visuellen Reizen ist zu viel, die Figur-Hintergrund-Wiedergabe zu komplex oder eine Situation zu lebhaft, um gut visuell interpretiert werden zu können. Einfache Formen wie Kreis und Dreieck werden erkannt, Quadrat und Rechteck scheinen bereits zu viele visuelle Ähnlichkeiten zu haben, um differenziert zu werden. Lernstörungen können eine Folge von solch einer Problematik sein. Diese Formerkennungsprobleme können separat, aber auch gemeinsam vorkommen. Wenn vor allem die Komplexität, die Menge an visuellen Ähnlichkeiten nicht gleichzeitig interpretiert werden kann, wird von Simultanagnosie gesprochen. Abb. 36: Komplexe Formerkennung - Figur-Hintergrund Aufgabe aus der FEW/DTVP-2 * Räumlich visuelle Wahrnehmung Unter räumlicher Orientierung versteht man, dass man weiß, wo man ist und wie man von hier nach dort kommt: man geht von A nach B mit einem Plan. Das klingt so einfach, aber jeder weiß, wie kompliziert es sein kann. - Standort und Bestimmungsort müssen bekannt und gespeichert sein (visuelle Erfahrung und Gedächtnis) - Orientierungspunkte des Weges müssen erkannt (visuelle Erkennung) und die Reihenfolge im Gedächtnis behalten werden (sequentielles Gedächtnis) - Umgebung und Orientierungspunkte müssen nicht nur richtig gespeichert, sondern auch von einer anderen Seite oder Richtung erkannt werden (Formkonstanz) - Gegenstände müssen auch in einer lebhaften Umgebung oder in einem unaufgeräumten Zimmer erkannt und gefunden werden (visuelle Komplexität, Figur-Hintergrund-Wahrnehmung und selektive Aufmerksamkeit) - die Bewegungsrichtung muss bekannt sein, erkannt und ausgeführt werden können (Richtungswahrnehmung, visuell-motorische Integration und Körperbewusstsein) - Gleichgewicht und Motorik müssen vorhanden sein - die Aufmerksamkeit muss auf das Wahrnehmungsfeld gerichtet und verteilt werden können - ein Plan von A nach B muss erstellt und durchgehalten werden können (exekutive Funktionen) Bedenkt man, wie viele Teilfunktionen zur räumlichen Orientierung nötig sind, dann ist es erstaunlich, wie viele Menschen sich gut orientieren können! Wenn Orientierung nicht gelingt, muss man herausfinden, welche Teilprobleme die Störung verursachen. In diesem Fall müssen die Schwächen erkannt, möglicherweise trainiert oder sonst ersetzt werden und passende Strategien eingeführt werden. Zum Beispiel kann Richtungswahrnehmung trainiert werden, genauso wie das Planen im Richten der Aufmerksamkeit. Bei Gedächtnisproblemen denkt man eher an Hilfsmittel wie an ein Handy oder das Verwenden eines Reimes zur Orientierung (Mnemotechnik) * Visuell motorische Integration (ICF b760) Babys folgen mit den Augen der Bewegung ihrer Eltern. Junge Kinder versuchen alles, was ihre Aufmerksamkeit erregt, zu erreichen und anzufassen. Im Alter von ungefähr einem Jahr kann das Kind schon Seiten eines Buches umblättern, Ringe zu Türmen stapeln und einfache Puzzles legen. In welchem Maß entwickelt sich die visuelle und räumlich-visuelle Wahrnehmung während das Kind sich selbst bewegt und/oder die Menschen und Dinge in der Umgebung sich bewegen? Viele Kinder können Menschen und Gegenstände, die sich langsam bewegen, bei wenig Umgebungsreizen gut beobachten. Wird entweder das eigene Bewegungstempo erhöht und/oder das der Umgebung, dann nimmt die Reizmenge zu und somit gelingt die visuelle Wahrnehmung nicht mehr oder es fehlen Teilinformationen. Lernbedarf besteht im Beschleunigen des Bewegungstempos. Dieses hängt von der sensorischen Informationsverarbeitung ab, in welchem Maß Sinnesinformationen zur gleichen Zeit verarbeitet werden können: Auge-Hand-Koordination, Auge-Fuß-Koordination, aber auch visuell-auditive Integration (anschauen und reden) sind wichtig. Kann das Kind zur gleichen Zeit schauen und handeln? 3.2 Die neuropsychologische Untersuchung Sobald augenärztliche und orthoptische Befunde bekannt sind und eine Behandlung schon stattgefunden hat, können Untersuchungen zur weiteren Abklärung der visuellen Informationsverarbeitung durchgeführt werden. * Bedingungen für eine neuropsychologische Untersuchung - Die Untersuchungsmaterialen sind passend für das gemessene Sehvermögen, die Untersuchung erfolgt mit den erforderlichen Hilfsmitteln wie Brille, Lupe oder Bildschirm. - Die Untersuchungsbedingungen (Licht, Sitzhaltung, Art der Anbietung) sollen so sein, wie es für das Kind notwendig ist. - Bei Tests, die in einer bestimmten Zeit erledigt werden müssen, wird beurteilt, ob das Kind mit der vorgeschriebenen Zeit auskommt oder ob es für die geforderten Leistungen eine Zeitverlängerung benötigt. Die international verwendeten Richtlinien sind für Kinder mit Sehbehinderung die 1½-fache und für Kinder mit Blindheit die doppelte Zeit. *Allgemeine Entwicklungsebene - Zuerst wird die allgemeine Entwicklungsebene mit einem Entwicklungsfragebogen, Skalen- oder Intelligenztest festgestellt. Die Kommunikationsebene und die verbalen Werte sind dabei von großer Bedeutung. Was versteht das Kind schon? - Tests für sehr junge Kinder wie Bayley Scales oder nonverbale Tests sind nicht immer für Sehbehinderte geeignet, da die Aufgaben stark von der visuellen Funktion und der Bewegungsfunktion abhängen. Einen guten Anhaltspunkt geben der Test WPPSI III (2½ bis 8 Jahre) und die Mullen Scales of Early Learning. Bei älteren Kindern wird HAWIK IV verwendet. Vor allem der Sprachindexwert wird als Anhaltspunkt genommen. - Mit dem Movement ABC wird die Bewegungsfunktion eingeschätzt oder es gibt schon bekannte Werte durch physio- oder ergotherapeutische Befunde. - Die visuelle Informationsverarbeitung wird mit diesen Daten - Entwicklungsebene und Bewegungsfunktion - verglichen. Ab der Entwicklungsebene von vier Jahren ist dies mit normierten Tests möglich. Jüngere Kinder werden in ihrem Spiel beobachtet, um festzustellen, wie das Kind unter verschiedenen Bedingungen reagiert (wann und wie schaut es, wann kann es etwas erkennen). 3.2.1 Die Aufmerksamkeitsfunktion (ICF b140) Bei allen Tests wird beobachtet, ob die Aufmerksamkeit auf das ganze verfügbare Gesichtsfeld gerichtet wird. Gesichtsfeld und Aufmerksamkeitsfeld sind zwei unterschiedliche Bereiche, die erst bei etwas älteren Kindern vollständig untersucht und unabhängig voneinander beurteilt werden können. Normierte Tests sind ab dem Alter von vier Jahren möglich (Nepsy I, Tea-Ch K und Tea-Ch). Bis dahin wird mit verschiedenen visuellen Suchaufgaben beobachtet, wie sich die Aufmerksam-keitssubfunktionen entwickeln. Abb. 37: Nepsy I, Subtest “visual attention”: Das Kind, das diesen Test durchführte, hat einen Aufmerksamkeits-feldverlust im Quadrant links oben Abb. 38: Tea-Ch, Subtest Raumschiffe: Das Mädchen, das diese Aufgabe bearbeitet hat, hat einen Aufmerksam-keitsfeldverlust im Feld äußerst links. Die blau markierten Raumschiffpaare wurden nicht wahrgenommen. Es hat auch Probleme in der Mobilität und beim Radfahren. 3.2.2 Visuelle Wahrnehmung oder visuelle Perzeption und räumlich visuelle Wahrnehmung (ICF 1561 und 1565) * Gesichtswahrnehmung Junge Kinder: Gesichter-Lotto sortieren Normierte Test mit NEPSY II ab der Entwicklungsebene von 5 Jahren. * Wahrnehmung von Form und Größe Ab der Entwicklungsebene von 4 bis 5 Jahren verwendet man häufig: FEW2/DTVP2 und NEPSY I & NEPSY II * Räumlich visuelle Wahrnehmung Ab der Entwicklungsebene von 4 bis 5 Jahren verwendet man häufig: FEW2/DTVP2 und NEPSY I & NEPSY II * Visuelles Gedächtnis (ICF b144) Ab der Entwicklungsebene von 4 bis 5 Jahren verwendet man häufig: NEPSY II (ab dem 5. Lj.) und TVPS (ab 4 Jahren) für visuell- und räumliches Gedächtnis. Für das auditive Gedächtnis wird VLMT häufig verwendet. * Visuell-motorische Integration (ICF b760) Visuell-motorische Integration wird meist mit einem Test zum Zeichnen oder Nachzeichnen geprüft, wobei auch die motorische Planung gut zu beobachten ist. Häufig verwendet werden FEW2/DTVP2 (ab dem 4. Lj.) und VMI Beery (ab dem 3. Lj.). Abb. 39: Test VMI Beery Figuren: Dieser Bub hat beim Nachzeichnen der VMI Beery Figuren (überlagernde Kreise, Kreise in einer bestimmten Anordnung) klare motorische Planungsprobleme. 3.3 CVI feststellen: Ein Diskrepanz-Modell Zur Feststellung von CVI wird folgendes Entscheidungsmodell empfohlen: Dik hat das „discrepancy working model“ für CVI bei der Child Vision Research Society Conference 2011 in den Niederlanden präsentiert (www.cvrsoc.org). In diesem Modell wird aufgezeigt, in welcher Form sich CVI von augenmedizinisch feststellbaren Sehschädigungen abhebt, in Deutschland wird dies bereits eingesetzt. Dieses Entscheidungs- oder Diskrepanzmodell ist in fünf Schritten aufgebaut. Die erwähnten Zahlen sind ICF-Nummern. Die Abklärung sollte im interdisziplinären Team erfolgen: Eltern, pädagogische, fachärztliche, (neuro-)psychologische und therapeutische Berufsgruppen. Schritt 1: Augenärztliche/orthoptische Untersuchung und Diagnose b210 Funktionen des Sehens: Sensorische Funktionen, Sehschärfe, Gesichtsfeld, Qualität des Sehvermögens, Licht- und Farbwahrnehmung, Sehschärfe bei Weit- und Nahsicht, einäugiges und beidäugiges Sehen b215 Funktionen von Strukturen, die in Verbindung mit dem Auge stehen: Bewegungsaspekte und Motilität Teamfrage: Können Aktivitäts- und Teilhabeprobleme durch den Entwicklungsstand und die augen-ärztlichen/orthoptischen Daten erklärt werden? - Wenn “Ja”: Einsatz der Methoden aus der Sehbehinderten-Didaktik - Wenn “Nein”: Schritt 2 Schritt 2: Neuropsychologische Untersuchungen und Testungen Geeignetes Testmaterial unter Einbeziehung aller verfügbaren Diagnosen wird heran-gezogen, um Informationen über die Struktur des Gehirns zu bekommen (siehe Neuro-psychologie). Schritt 3: Vergleichen der Ergebnisse folgender Bereiche: siehe Tabelle Schritt 4: Bewerten jedes visuellen Problems: leicht, mäßig, erheblich oder voll Schritt 5: Hilfe ist angezeigt bei einem vollen oder erheblichen Problem, ebenso bei einer Anzahl von mäßigen oder von leichten Problematiken - unter Einbeziehung von anderen möglichen Diagnosen. Fazit: Zur Umsetzung dieser Ergebnisse sind schriftliche Diagnostikberichte mit Beschreibung aller visuellen Subfunktionen erforderlich, damit das Kind bestmöglich im Netzwerk aller pädagogisch-therapeutischen Berufsgruppen betreut werden kann. Tests: FEW-2 Frostig Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung-2, Verlag Testzentrale. DTVP-2 Developmental Test of Visual perception-2, Verlag Pro-Ed. NEPSY I & II Developmental neuropsychological assessment. Verlag Pearson. Teach- K Test of Everyday Attention for Children (TEA-Ch-K) 4-6, Verlag Pearson. Tea-Ch Test of every attention for children 6-16, Verlag Pearson. TVPS Test of Visual Perceptual Skills (Revised), Ann Arbor Publishers. VMI. Beery Buktenica Developmental Test of Visual Motor Integration, 6th Edition (Beery VMI). Verlag Pearson. VLMT Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest. Verlag Beltz Test GMBH. ICF „Die ICF dient fach- und länderübergreifend als einheitliche und standardisierte Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen. Mit der ICF können die bio-psycho-sozialen Aspekte von Krankheitsfolgen unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren systematisch erfasst werden.“ http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/ vom 15.11.2014 Erklärungen zu Komponenten, Kapitel, Gruppen und Kategorien finden Sie unter http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/struktur.html 4 AUGENHEILKUNDE 4.1 Das sehauffällige Kind aus augenärztlicher/orthoptischer Sicht Lernstörungen können vielfältige Ursachen haben. Die Entwicklung des Sehens ist bei Schulbeginn noch nicht abgeschlossen. Diskrete Fehler im optischen System und in der cerebralen Verarbeitung fallen während der Kindergartenzeit nicht auf, machen aber Probleme im Schulalltag. Konzentration und visuelle Aufmerksamkeit werden täglich über mehrere Stunden verlangt. Für das Kind ist sein Sehen „normal“. Es wird nicht auf die Idee kommen, dass eine Brille das Sehen verbessert und die Augen entspannen könnte. Auch kann es sich nicht vorstellen, dass andere Kinder und Erwachsene anders, besser sehen. Erkrankungen oder Fehlbildungen, sofern sie mit freiem Auge nicht erkennbar sind, fallen beim Kleinkind erst auf, wenn die Sehschärfe 10% oder weniger beträgt. Spielsachen und Bilderbücher sind groß, bunt und in der Regel kontrastreich. Schielen und ungleiche Fehlsichtigkeiten mit Schwachsichtigkeit eines Auges stören die grobmotorische Entwicklung in der Regel wenig. Ungeschicklichkeit, Tollpatschigkeit werden lange nicht auf schlechtes Sehen zurückgeführt. Im Kindergartenalter werden die Spielsachen kleiner, längere visuelle Aufmerksamkeit wird gefordert, Vorbereitungen für die Schule werden getroffen. Wenn die Kinder bis zu dieser Zeit noch nicht augenärztlich untersucht wurden (versäumte augenärztliche Mutter-Kind-Pass-Untersuchung oder fehlende Screening-Untersuchung im Kindergartenalter), kann es sein, dass erst Schulprobleme die verminderte Sehschärfe oder eine behandlungsbedürftige Augenerkrankung aufdecken. Doch es gibt auch Augenerkrankungen, die nach unauffälliger frühkindlicher Entwicklung der visuellen Funktionen erst im späteren Kindesalter manifest werden. Es ist eine gründliche augenärztliche Untersuchung aller Augenabschnitte erforderlich, um organische Veränderungen zu erkennen. Okuläre = augenbedingte Lesestörungen, die durch nicht oder nicht voll korrigierte Sehfehler, durch latentes Schielen oder Naheinstellungsschwierigkeiten bedingt sind, können ähnliche Auffälligkeiten wie Teilleistungsschwächen zeigen. Während die Beschwerden bei Teilleistungsschwächen inkonstant sind, treten sie bei den okulären Lesestörungen bei längerer visueller Belastung (15 - 30 Minuten) bzw. bei Fokuswechsel (Abschreiben von der Tafel) verstärkt auf. Nicht jede kleine Fehlsichtigkeit erfordert eine Brille. Nach dem Motto: „Nobody is perfect“ kompensieren wir diskrete Fehler im optischen System. Übersteigen die Fehlsichtigkeiten oder Naheinstellungsschwächen die Kompensationsfähigkeit oder dauert die Belastung zu lange an, treten Probleme im Schulalltag auf. Immer wieder gibt es Kinder, die weniger durch ihr schlechtes Sehen, als vielmehr durch Konzentrations-, Aufmerksamkeitsschwächen und Verhaltensbesonderheiten auffällig werden. Voraussetzungen für das Erlernen des Lesens und Schreibens sind eine stabile Fixation, gutes Sehen in Ferne und Nähe, gutes Kontrastsehen, gute Augenbeweglichkeit und eine mühelose sensorische Fusion (Verschmelzung) der Bilder beider Augen. Das visuelle Erkennen von Geschriebenem, die semantische Bewusstwerdung und die Transformation zur Aussprache bzw. motorisch zu Schrift erfordert eine neurologische Höchstleistung in vielen Teilen unseres Gehirns. 4.2 Augenärztliche und orthoptische Untersuchungen Die augenärztliche und orthoptische Untersuchung soll so früh wie möglich okuläre Ursachen von Lese- und Lernstörungen aufdecken, damit diese gezielt behandelt werden. Das Kind soll seine Energie nicht zur Kompensation von therapierbaren Fehlsichtigkeiten verwenden, sondern soll sich voll und ganz auf die pädagogische Förderung seiner Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen konzentrieren können. Seh- und mehrfachbehinderte Kinder sind in den ersten Lebensjahren sehr schwierig zu untersuchen. Viel Erfahrung und ein empathischer Zugang sind nötig. Subjektive Angaben zum Wahrgenommenen können vom Kind meist nicht gemacht werden, die Beurteilung beruht auf objektiven Zeichen und dem Beobachten des visuellen Verhaltens. Oft sind es diagnostische Puzzle-Teilchen, die durch Beobachtung über Jahre eine Vorstellung von cerebralen visuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen ergeben. 4.2.1 Anamnese = Vorgeschichte Schwangerschafts- und Geburtsverlauf, Schilderung der Seh- und Allgemeinentwicklung, Entwicklungsverzögerungen, Krankheiten, Fehlbildungen, Probleme in der Schule Liegen bei einem Kind Störungen in der Motorik/Bewegungsfunktion und in der visuellen und/oder auditiven cerebralen Informationsverarbeitung vor, ergibt die Anamnese zumeist schon Hinweise darauf aus der frühkindlichen Entwicklung: - schlechte APGAR-Werte - APGAR = Punkteschema, mit dem der klinische Zustand von Neugeborenen beurteilt wird (Herzfrequenz, Atmung, Reflexe, Muskeltonus, Hautfarbe) - späte Auge-Hand-Koordination - verzögerte grob- und feinmotorische Fertigkeiten - fehlende Krabbelphase - Entwicklungsrückstände im Spiel- und Sozialverhalten 4.2.2 Fehlsichtigkeiten = Refraktionsfehler Geringe Sehfehler sind die Regel und werden vom Gehirn kompensiert. Bei höherer Weitsichtigkeit = Hypermetropie, Kurzsichtigkeit = Myopie, Hornhautverkrümmung = Astigmatismus oder länger dauernder Naharbeit müssen sie mit Brille korrigiert werden. Ob ein Sehfehler vorliegt, wird beim Kind mittels Skiaskopie ermittelt. Abb. 40: Die Augenärztin untersucht einen Buben mit dem Skiaskop. Die Augenärztin leuchtet mit dem Skiaskop auf die Pupille des Kindes und bewegt das Skiaskop hin und her. Je nach Mit- oder Gegenbewegung des von der Netzhaut reflektierten Lichtes und dem Vorhalten von Gläsern wird die Dioptrienstärke bestimmt. Dafür sind Augentropfen erforderlich. Sie erweitern die Pupille und schalten die Akkommodationsfähigkeit (Autofokus) aus. 4.2.3 Sehschärfe = Visus Der Visus gibt das Auflösungsvermögen (d. h. zwei Punkte können getrennt wahrgenommen werden) der Netzhaut und der Funktion des Sehnerven wider. Die Sehschärfe für die Ferne wird meist mit Buchstaben oder Zahlen geprüft. Besser für Kinder sind Sehzeichen (Optotypen), bei denen nur eine Richtungsangabe notwendig ist: - in welche Richtung zeigen die Striche (E-Haken) - wo ist das Loch im Ring (Landolt-Ring) - oder sie wird mit Symbolen erhoben (Lea Hyvärinen Symbole) Die Sehschärfe muss bei gesunden Kindern mit oder ohne Brille mühelos mindestens 80 % sein. Der Nahvisus hängt nicht nur von der Qualität der Netzhautmitte und des Sehnerven ab, sondern auch von der Akkommodation = Fähigkeit der Linse zur Abkugelung für scharfes Sehen in der Nähe = Zoomfunktion. Gutes Sehen und rasche Scharfstellung in Ferne und Nähe sind vor allem beim Abschreiben von der Tafel notwendig. * Crowding oder Trennschwierigkeiten, Einzel-/Reihensehschärfe Kinder können einzelne Sehzeichen besser als eng benachbarte Sehzeichen gleicher Größe erkennen. Sind die Optotypen sehr nahe angeordnet (Wörter, Lesetexte), so kommt es zu einer Kontureninteraktion mit schlechterem Auflösungsvermögen. Diese Kontureninteraktion ist neurogen bedingt, tritt aber verstärkt im Rahmen einer visuellen Verarbeitungsstörung, bei Schielen und bei Refraktionsfehler auf. Die Überlappung der Konturen stört nicht nur beim Lesen kleingeschriebener Texte und beim Betrachten von Wimmelbildern, sondern auch in großen Menschenmengen oder vor Kaufhausregalen. Erleichtert wird die Wahrnehmung durch Vergrößerung der Zeichen/Buchstaben und durch Vergrößerung des Abstandes zwischen den Zeichen. Erst mit ca. zehn Jahren erreichen die Kinder die Reihensehschärfe der Erwachsenen, wobei diese gleich oder eine Zeile schlechter als die Einzelsehschärfe ist. * Visusäquivalent, visuelles Verhalten Sehzeichen, die zur Visuserhebung bei normal entwickelten Kindern verwendet werden, erfordern entweder eine Raum-/Richtungswahrnehmung: E-Haken, Landolt-Ring oder eine Figurwahrnehmung: Lea Hyvärinen Symbole. Bei cerebraler visueller Informationsverarbeitungsstörung können diese Funktionen beeinträchtigt sein, sodass ein Visusäquivalent erhoben werden muss. Die Einschätzung des Sehvermögens beruht auf Preferential Looking (PL)-Methoden (= bevorzugtes Hinsehen): - Streifenmuster: Dem Kind wird eine gestreifte (verschiedene Streifenbreiten) und eine neutrale Fläche gezeigt. Die Blick- oder Kopfzuwendung zum Streifenmuster lässt auf die Erkennung schließen. Diese Gittersehschärfe prüft nicht nur die Netzhautmitte, sondern ein weit größeres Netzhautareal. - Objekttest: Dem Kind werden kleine Objekte (z. B. Holzkugel in einer Hand, Spielzeug am Boden) angeboten. Blick oder Griff zum Objekt beruhen auch auf dem Preferential Looking Prinzip. Damit wird nicht nur die Sehschärfe, sondern auch Farb- und Kontrastwahrnehmung geprüft. Abb. 41: LEA-Paddels: Der gestreifte Paddel wird hinter dem grauen Paddel „versteckt“ und dann nach rechts und links bewegt: Abb. 42a, 42b: Objekttest mit einer roten Kugel. Abb. 42a: Eine kleine Kugel wird in einer der beiden geschlossenen Hände „versteckt“ und dann geöffnet, die Blickzuwendung des Kindes wird beobachtet. Abb. 42b: Das Kind krabbelt zur Kugel am Boden sobald es sie entdeckt hat. Sind mit PL-Methoden keine „Antworten“ zu erzielen, wird das visuelle Verhalten beobachtet bzw. von den Eltern erfragt: - fixiert das Kind Personen oder Gegenstände - schaut es im Raum herum - beobachtet es Gesichter und nimmt Blickkontakt auf - greift das Kind nach Spielsachen, betrachtet es diese aus verschiedenen Richtungen - steckt es diese auch nach der oralen Phase sofort in den Mund - spielt es mit anderen Kindern 4.2.4 Gesichtsfeld = (Konfrontations-) Perimetrie Die Gesichtsfelduntersuchung prüft die Empfindlichkeit der peripheren Netzhautareale. Während das Kind ein Objekt oder das Gesicht vor ihm fixiert, werden andere Gegenstände oder Licht von der Seite, von oben und unten nach zentral bewegt. Konfrontationsperimetrie: Die Blick- oder Kopfwendung zum seitlichen Objekt lässt die periphere Wahrnehmung erkennen. Abb. 43: Gesichtsfelduntersuchung Alexander schaut auf das kleine Spielzeug vor ihm. Eine zweite Untersuchungsperson bringt von der rechten Seite ein weiteres Spielzeugtier in das Gesichtsfeld. Sobald es wahrgenommen wird, blickt das Kind zur Seite. Die normalen Gesichtsfeldgrenzen für jedes Auge reichen ca. 90° nach außen, 50° nach innen über die Nase, 50° nach oben und 70° nach unten. Die Gesichtsfelder beider Augen überlappen sich großteils. Gesichtsfeldausfälle kommen bei vielen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen vor. Bei Raumwahrnehmungsstörungen werden die Informationen aus den Gesichtsfeldern nicht verarbeitet und zeigen das Bild des Neglekts = Vernachlässigung. Kinder mit Neglekt haben keine Aufmerksamkeit für einen Teil ihres Gesichtsfeldes. 4.2.5 Kontrastsehen Kontrasttests weisen die Unterscheidungsfähigkeit feiner Grautöne und Schattierungen nach (wichtig bei der Erkennung von Mimik und Alltagssituationen). Abb. 44: Lea-Kontrasttest Hiding Heidi: Stilisiertes Gesicht in verschiedenen Kontraststufen Abb. 45: Lea-Kontrasttest LH Symbole: Haus, Kreis, Apfel und Viereck in verschiedenen Kontraststufen 4.2.6 Farbsehen Mit Farbtests wird das Erkennen und Differenzieren von Farben evaluiert. Abb. 46: LEA Farbpuzzle: LH-Symbole in den Farben orange, blau, gelb und rot auf grünem Hintergrund. Abb. 47: LEA Panel 16 Test: 16 Farbklötze müssen in einer Pastell-Farbreihe (ähnliche Farben) von blau über grün, gelb und rot aneinandergereiht werden. 4.2.7 Augenstellung, Augenbeweglichkeit, beidäugiges Sehen Parallelstand der Augen bei Fixation in der Ferne (Tafel), Konvergenz in der Nähe (Heft) und symmetrische Augenbewegungen in alle Richtungen erfordern ein perfektes motorisches Zusammenspiel aller zwölf Augenmuskeln an beiden Augen. Das Gehirn fusioniert die Bilder beider Augen zu einem einzigen Seheindruck und liefert die Basis für dreidimensionales Sehen. Störungen müssen soweit als möglich behoben werden. Schielen und reduziertes beidäugiges = räumliches Sehen ist ein häufiger Befund bei kindlicher Sehbehinderung. Für die Untersuchung der Augenstellung und -beweglichkeit und auch der Akkommodation ist relativ wenig Mitarbeit des Kindes erforderlich. Das Kind muss nur kurzfristig optisch attraktive Objekte fixieren. Ob das Kind zur Fusion der Bilder beider Augen fähig ist und dreidimensionales = beidäugiges Sehen besitzt, erfordert subjektive Angaben des Kindes. 4.2.8 Vordere und hintere Augenabschnitte Die Beurteilung der vorderen Augenabschnitte, der Pupillenreaktion und des Augenhinter-grundes differenziert Erkrankungen oder Fehlbildungen der einzelnen Augenanteile von Wahrnehmungsstörungen. Sind diese unauffällig, wird die Ursache der Sehbehinderung in der weiteren cerebralen visuellen Verarbeitung liegen. 4.2.9 Elektrophysiologische und neuroradiologische Untersuchungen Besteht der Verdacht auf Schädigungen des Gehirns können weitere Untersuchungen notwendig werden. Visuell evozierte Potentiale messen die elektrischen Ströme in der Sehbahn während das Kind ein Schachbrettmuster beobachtet. Eine Differenzierung zwischen Sehbahnschädigung und CVI ist möglich. Schichtaufnahmen des Gehirns mit der Magnetresonanztomografie zeigen Fehlentwicklungen, erhöhten Hirndruck oder nach Sauerstoffmangel abgestorbene Hirnareale an. 4.2.10 Befund All diese Untersuchungen erfordern bei Kindern mit organischen Sehbehinderungen bzw. cerebralen visuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen mehrere Untersuchungs-termine und können erst bei wiederholter Begutachtung richtig eingeschätzt werden. Damit augenärztliche und orthoptische Befunde in entsprechende pädagogische Konzepte umgesetzt werden können, müssen schriftliche Befundberichte klare Angaben über die Sehfunktionen und die Auswirkung einer Sehbehinderung auf den Schulalltag beinhalten. Damit kann das Kind bestmöglich im Netzwerk aller pädagogisch/therapeutischer Berufsgruppen betreut werden. LITERATUR Bals, I. (2009): Zerebrale Sehstörung. Begleitung von Kindern mit zerebraler Sehstörung in Kindergarten und Schule. Aus dem Niederländischen von Heinz Graumann. Würzburg: Edition Bentheim. Dik, M. (2006): Babys und Kleinkinder mit visuellem Funktionsverlust. Ratgeber für Eltern von blinden und sehbeeinträchtigen Kleinkindern. Eemnes, Niederlande. Dutton, G. (2013): CVI – Cerebral Visual Impairment. Zerebrale Visuelle Verarbeitungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen – Aufsätze aus 10 Jahren. Würzburg: Edition Bentheim. Goldenberg, G. (2000): Neuropsychologie. Grundlagen, Klinik, Rehabilitation. München. Jena: Elsevier Urban & Fischer. Gruber, H. & Hammer, A. (2002): Ich sehe anders. Medizinische, psychologische und pädagogische Grundlagen der Blindheit und Sehbehinderung bei Kindern. Würzburg: Edition Bentheim. Henriksen, A.: Handout bei der Tagung Salzburg 2014 „Da geht´s App“ Hyvärinen, L. & Jacob, N. (2011): WHAT and HOW Does This Child See? Helsinki: VISTEST Ltd. Hyvärinen, L. (2013): Die Wege der visuellen Informationen und das Profil der visuellen Funktionsfähigkeit. Frühförderung interdisziplinär, 32, 139-149. Jaritz, G. & Schloffer, B. (2014): Wenn die Wahrnehmung durcheinander gerät. Entwicklung von Fördermaßnahmen für Kinder mit Cerebraler Visueller Informationsverarbeitungsstörung. Interner Forschungsbericht zum Projekt, Graz: PH Steiermark. Kerkhoff, G. (2006): Störungen der visuellen Raumwahrnehmung und Raumkognition. In: Hartje, W. & Poeck, K. (Hrsg.): Klinische Neuropsychologie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag. Lang, M., Hofer, U. & Beyer, F. (2008): Didaktik des Unterricht mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. Band 1: Grundlagen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. Mundhenk, S. (2008): Die Schleswiger Seh-Kiste zur Beobachtung des funktionalen Sehens von Kindern und Jugendlichen unter der Fragestellung von CVI (Cerebral Visual Impairment). Eine Material- und Ideensammlung für den pädagogischen Alltag. Würzburg: Edition Bentheim . Niedeggen, M. & Jörgens, S. (2005): Visuelle Wahrnehmungsstörungen. Göttingen: Hogrefe. Walthes, R. (2014): Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung. München: Ernst Reinhard Verlag. Walthes, R. (2013): Sehen - Andersehen - Nichtsehen? Zur Bedeutung des Sehens und der visuellen Wahrnehmung für Entwicklung und Lernen. Frühförderung interdisziplinär, 32, 131-138. World Health Organization (2011): ICF-CY Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG. Zihl, J., Mendius, K., Schuett, S. & Priglinger, S. (2012): Sehstörungen bei Kindern. Visuoperzeptive und visuokognitive Störungen bei Kindern mit CVI. Wien. New York: Springer Verlag. INTERNETVERWEISE: Organisationen: Elternselbsthilfe sehgeschädigter Kinder: http://www.esh.at Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik Österreichs: http://www.vsbp.at/ Blinden- und Sehbehindertenverband Österreichs: http://www.blindenverband.at/ Verband der Orthoptistinnen und Orthoptisten Österreichs: http://www.orthoptik.at/ http://www.kinder-mit-cvi.de Didaktikpool: http://www.isar-projekt.de/didaktikpool.html Hilfsmittelfirmen: http://www.tsb.co.at/ http://www.baum.at/ http://www.incobs.de/ http://www.caretec.at Zentren und Schulen: Übersicht: http://www.cisonline.at/index.php?id=162 Burgenland: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik Stegersbach http://www.avin.at/spz-stegersbach/ Niederösterreich: Inklusiv- und Sonderpädagogik Niederösterreich http://spz.noeschule.at/index.php?option=com_content&task=view&id=78&Itemid=75 Oberösterreich: Landeszentrum für Hör- und Sehbildung http://www.lszhs.eduhi.at/index.php?id=412 Kärnten Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik für sehbehinderte und blinde Kinder http://cisonlinearchiv.eduhi.at/html/spzsehblind.htm Salzburg: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik für sinnesbehinderte Kinder http://www.spz-sinnesbehinderte.salzburg.at/ Steiermark: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik Odilien-Institut http://www.odilien.at/ Tirol: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik für blinde und sehbehinderte Kinder http://www.spz-sbk.tsn.at/ Vorarlberg: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik, Landeszentrum für Sehförderung und Blindenpädagogik http://www2.vobs.at/spz-hohenems/index.html Wien: Bundes-Blindenerziehungsinstitut http://www.bbi.at/ Schule für sehbehinderte Kinder Wien http://zinckgasse.schule.wien.at/ Kontaktpersonen der Bundesländer unter http://www.cisonline.at/foerderschwerpunkte/sehen/sehen-expertinnengruppe/ Das Redaktionsteam Dipl.-Päd.in Gertrude Jaritz, BEd ZIS Odilien-Institut Graz und PH Steiermark gertrude.jaritz@phst.at, www.gerti-jaritz.at Mag.a Birgit Schloffer, BEd ZIS Odilien-Institut Graz www.odilien.at Dipl.-Päd.in Judith Kowal, MPOS Bundes-Blindenerziehungsinstitut Wien www.bbi.at Dipl.-Päd.in Karin Trifinopoulos, BEd Sehbehindertenpädagogin im mobilen Dienst, NÖ 0237190@schule-noe.at Dr.in Hildegard Gruber, Oberärztin Abteilung für Augenheilkunde und Orbitachirurgie Landesklinikum St. Pölten - Lilienfeld Drs. Marjolein Dik, Neuropsychologin Royal Visio Amsterdam www.marjoleindik.com Wir bedanken uns bei allen Schülerinnen und Schülern und bei allen Menschen von denen wir über CVI lernen durften. BROSCHÜRE DES BUNDESMINISTERIUMS FÜR BILDUNG UND FRAUEN DAS KIND MIT CEREBRALEN VISUELLEN INFORMATIONSVERARBEITUNGSSTÖRUNGEN - CVI Impressum Medieninhaber und Herausgeber: Bundesministerium für Bildung und Frauen, Abteilung I/5 Freyung 1, 1014 Wien, Mag.a Dominika Raditsch Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind die Autorinnen verantwortlich. Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken. Autorinnen- und Redaktionsteam: Marjolein Dik, Hildegard Gruber, Gertrude Jaritz, Judith Kowal, Margit Mikosch, Birgit Schloffer, Karin Trifinopoulos Koordination: Gertrude Jaritz Layout und Umschlaggestaltung/Endredaktion: Karin Trifinopoulos Michael Trnka, Bundesministerium für Bildung und Frauen, Abteilung I/5 Lektorat: Irma Mathis-Bonmassar, Karin Pammer Fotos: Hildegard Gruber, Gertrude Jaritz, Judith Kowal, Eva Leitner, Birgit Schloffer, Karin Trifinopoulos Bildmaterial Umschlag: http://www.pictoselector.eu/ http://creativecommons.org/ Erscheinungsdatum: Februar 2015 Internetversion: http://www.cisonline.at/foerderschwerpunkte/sehen/ Editorial In den letzten Jahren befassen sich Blinden- und Sehbehindertenpädagog/inn/en aber auch Psycholog/inn/en zunehmend mit Sehproblemen bei Kindern und Jugendlichen, die nicht nur durch eine Schädigung des Sehorgans, sondern durch Störungen der Sehverarbeitung und Wahrnehmung im Gehirn verursacht sind. Das Phänomen, das mit dem Begriff Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörung kurz CVI (im Englischen Cerebral Visual Impairment) bezeichnet wird, rückt dabei immer stärker in den Fokus. Was ist CVI? Was sind Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörungen? Sind Sehprobleme möglich obwohl das Auge und der Sehnerv in Ordnung sind? Wieso kann ein Kind einmal kleinste Dinge sehen und dann wieder nicht? Fragen über Fragen. Der Inhalt der vorliegenden Broschüre soll als Information, Hilfestellung und als Nachschlage- werk dienen, um sowohl allen Pädagog/inn/en und Schulpsycholog/inn/en im österreichischen Schulwesen als auch den betroffenen Erziehungsberechtigten einen Einblick in das Thema CVI zu geben. Diese Broschüre ist in vier Teile gegliedert: Grundlagen, Pädagogik, Neuropsychologie und Augenheilkunde. Die einzelnen Themenbereiche werden aus unterschiedlichen Sichtweisen interdisziplinär dargestellt. Die vorliegende Publikation versteht sich als ein erster Schritt, um allen Schülerinnen und Schülern mit einer Cerebralen Visuellen Informationsverarbeitungsstörung die notwendige Aufmerksamkeit zu geben und die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Mag.a Dominika Raditsch Bundesministerium für Bildung und Frauen, Abteilung für Diversitäts- und Sprachenpolitik; Sonderpädagogik und Inklusive Bildung DAS KIND MIT CEREBRALEN VISUELLEN INFORMATIONSVERARBEITUNGSSTÖRUNGEN - CVI Impressum Editorial 2 1 GRUNDLAGEN 1.1 WAS IST EINE CEREBRALE VISUELLE INFORMATIONSVERARBEITUNGSSTÖRUNG (CVI)? 1.2 WIE ERFOLGT DIE VISUELLE INFORMATIONSVERARBEITUNG IN AUGE UND GEHIRN 1.2.1 BASISLEISTUNGEN DES SEHENS VON AUGE UND GEHIRN 1.2.2 VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE WEITERE CEREBRALE VERARBEITUNG 1.2.3 VENTRALE WEITERVERARBEITUNG 1.2.4 DORSALE WEITERVERARBEITUNG 1.3 URSACHEN FÜR CVI 2 PÄDAGOGIK 2.1 CVI IM PÄDAGOGISCHEN ALLTAG - CHECKLISTE 2.2 VORGEHENSWEISE BEI VERDACHT AUF CVI 2.3 WICHTIGE BEREICHE DER CEREBRALEN VISUELLEN INFORMATIONSVERARBEITUNG 2.3.1 VISUELLE AUFMERKSAMKEIT 2.3.2 VISUELLES GEDÄCHTNIS 2.3.3 CROWDING (TRENNSCHWIERIGKEITEN) 2.3.4 BEWEGUNGSWAHRNEHMUNG 2.3.5 FARBWAHRNEHMUNG 2.3.6 FORM-, FIGUR- UND OBJEKTERKENNUNG 2.3.7 BUCHSTABENERKENNUNG 2.3.8 GESICHTSWAHRNEHMUNG 2.3.9 RÄUMLICH PERZEPTIVE WAHRNEHMUNG 2.3.10 RÄUMLICH KOGNITIVE FÄHIGKEITEN 2.3.11 VISUOMOTORISCHE UND VISUOKONSTRUKTIVE FÄHIGKEITEN 2.3.12 RÄUMLICH TOPOGRAFISCHE ORIENTIERUNGSLEISTUNGEN 2.3.13 ALLGEMEINE SENSORISCHE INFORMATIONSVERARBEITUNG 2.4 LESEN, SCHREIBEN UND RECHNEN LERNEN MIT CVI 2.4.1 DEUTSCH, LESEN UND SCHREIBEN 2.4.2 MATHEMATIK UND RÄUMLICHES GEDÄCHTNIS 2.5 CHECKLISTEN NACH UNTERRICHTSFÄCHERN 2.6 PRAKTISCHE UMSETZUNG IM UNTERRICHT 2.7 HILFESTELLUNGEN UND HILFSMITTEL 2.8 BERICHTE 2.8.1 KEIN PROBLEM ZU HAUSE 2.8.2 MEIN BESONDERES KIND MATTHIAS 2.8.3 MEINE TOCHTER FLORA 2.8.4 ZUHÖREN IST SEINE GROßE STÄRKE 2.8.5 DAS POSITIVE AN DER PROSOPAGNOSIE 2.8.6 WO BIN ICH? 3 NEUROPSYCHOLOGIE 3.1 DAS SEHAUFFÄLLIGE KIND AUS (NEURO-)PSYCHOLOGISCHER SICHT 3.1.1 DIE AUFMERKSAMKEITSFUNKTION 3.1.2 VISUELLES GEDÄCHTNIS 3.1.3 VISUELLE WAHRNEHMUNG ODER VISUELLE PERZEPTION UND RÄUMLICH VISUELLE WAHRNEHMUNG 3.2 DIE NEUROPSYCHOLOGISCHE UNTERSUCHUNG 3.2.1 DIE AUFMERKSAMKEITSFUNKTION (ICF B140) 3.2.2 VISUELLE WAHRNEHMUNG ODER VISUELLE PERZEPTION UND RÄUMLICH VISUELLE WAHRNEHMUNG 3.3 CVI FESTSTELLEN: EIN DISKREPANZ-MODELL 4 AUGENHEILKUNDE 4.1 DAS SEHAUFFÄLLIGE KIND AUS AUGENÄRZTLICHER/ORTHOPTISCHER SICHT 4.2 AUGENÄRZTLICHE UND ORTHOPTISCHE UNTERSUCHUNGEN 4.2.1 ANAMNESE = VORGESCHICHTE 4.2.2 FEHLSICHTIGKEITEN = REFRAKTIONSFEHLER 4.2.3 SEHSCHÄRFE = VISUS 4.2.4 GESICHTSFELD = (KONFRONTATIONS-) PERIMETRIE 4.2.5 KONTRASTSEHEN 4.2.6 FARBSEHEN 4.2.7 AUGENSTELLUNG, AUGENBEWEGLICHKEIT, BEIDÄUGIGES SEHEN 4.2.8 VORDERE UND HINTERE AUGENABSCHNITTE 4.2.9 ELEKTROPHYSIOLOGISCHE UND NEURORADIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN 4.2.10 BEFUND Literatur 65 Internetverweise 66 NOBODY IS PERFECT... ... wir nicht und auch nicht die Kinder, die wir unterrichten. Wir haben alle unsere Stärken und unsere Schwächen. Was tun, wenn die Schwäche in der Verarbeitung des Gesehenen zu einer detailgetreuen Abbildung im Gehirn und die Bewusstwerdung dieses Bildes nicht funktioniert? Mit dieser Frage werden im Besonderen die Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen konfrontiert und diese Frage hat zum Forschungsprojekt „Wenn die Wahrnehmung durch- einander gerät“ an der Pädagogischen Hochschule Steiermark und dem Odilien-Institut Graz unter der Leitung von Gertrude Jaritz und Birgit Schloffer geführt. Der englische Begriff „cerebral visual impairment“ kann ins Deutsche mit Cerebraler Visueller Informationsverarbeitungsstörung übertragen werden. Defizite in der Cerebralen Visuellen Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung ? bekannt unter CVI ? führen zu den unterschiedlichsten Auffälligkeiten im (schulischen) Alltag und erfordern eine interdisziplinäre Abklärung sowie die Berücksichtigung im pädagogischen Konzept. Diese, vom Bundesministerium für Bildung und Frauen in Auftrag gegebene, Broschüre entstand unter der Mitarbeit der Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen Gertrude Jaritz, Judith Kowal, Birgit Schloffer und Karin Trifinopoulos, der holländischen Neuropsychologin Marjolein Dik, den Augenärztinnen Hildegard Gruber und Margit Mikosch, betroffenen Menschen und deren Eltern. Die finnische Augenärztin Lea Hyvärinen hat uns die Augen für dieses Grenzgebiet der Augenheilkunde/Neurologie/Neuropsychologie geöffnet. Mit der Themen- und Materialiensammlung dieser Broschüre erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. „Alles Wissen und alle Vermehrung unseres Wissens endet nicht mit einem Schlusspunkt, sondern mit Fragezeichen. Ein Plus an Wissen bedeutet ein Plus an Fragestellungen, und jede von ihnen wird immer wieder von neuen Fragestellungen abgelöst.“ Hermann Hesse 1 GRUNDLAGEN 1.1 Was ist eine Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörung (CVI)? „Cerebrale Visuelle Informationsverarbeitungsstörungen liegen vor, wenn aufgrund von einer oder mehreren Störungen der visuellen Funktionen Aktivitäten beeinträchtigt sind und/oder Probleme in der Teilhabe im alltäglichen Leben auftreten. Diese sind eine Folge von prüfbaren oder auch nicht prüfbaren Schäden oder einer abweichenden Entwicklung von einer oder mehreren Gehirnregionen.“ Diese Definition wurde nach der ICF ? International Classification of Functioning, Disability and Health 2013 (siehe S.58) von einer niederländischen Expertengruppe von Royal Dutch Visio entwickelt. Die Beobachtung des visuellen Verhaltens und die augenärztliche Untersuchung sind die Grundlage dieser Definition von CVI. Damit können Beeinträchtigungen von Aktivitäten sowie Probleme in der Teilhabe, die aus den Störungen dieser Funktionen resultieren, erklärt werden. Hyvärinen, Colenbrander und Dutton versuchten eine klare Differenzierung zwischen okulären und cerebralen Sehproblemen zu machen, allerdings beeinflussen sich Gehirn und Auge wechselseitig in der Wahrnehmung. Derzeit gibt es noch keine fundierten Zahlenangaben über die Häufigkeit von Kindern mit CVI. Irmgard Bals führt aus, dass eines von 1000 Kindern in den industrialisierten Ländern sehbehindert oder blind ist. Davon sind ungefähr 1/3 von einer cerebralen Sehstörung betroffen. (Bals, 2009, S. 7) Erfahrungen im pädagogischen Alltag lassen auf eine viel höhere Anzahl von Kindern mit CVI schließen. Die Diagnostik von CVI stellt eine komplexe Herausforderung dar und kann daher nur interdisziplinär erfolgen (Augenheilkunde, Pädagogik, Psychologie, therapeutische Berufe, Eltern). Netzwerke müssen aufgebaut werden, um die Inklusion und Teilhabe dieser Kinder zu ermöglichen. 1.2 Wie erfolgt die visuelle Informationsverarbeitung in Auge und Gehirn 1.2.1 Basisleistungen des Sehens von Auge und Gehirn Lichtstrahlen, die in das Auge fallen, werden vom optischen System (Sammellinse) gebrochen. Sind Brechkraft (Hornhaut und Linse) und Brennweite (Augenlänge) perfekt aufeinander abgestimmt, entsteht eine scharfe Abbildung des gesehenen Bildes auf der Netzhaut. Die Sehschärfe (der Visus) für die Ferne ist gut. Um in der Nähe gut zu sehen, muss sich unsere Linse wie ein Zoom-Objektiv auf näher gelegene Objekte einstellen = Akkommodation. Die Prüfung der Sehschärfe erfolgt mit schwarzen Sehzeichen auf weißem Hintergrund. Unsere Umwelt ist nicht nur schwarz-weiß. Tests in immer schwächer werdenden Grautönen untersuchen das Kontrastsehen, andere Tests das Farbsehen. Während die Sehschärfeprüfung nur die Abbildungsqualität der zentralen Netzhaut (Makula) ermittelt, wird die Gesamtheit der Netzhautfunktion mit der Gesichtsfeldprüfung festgestellt. Um bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen gut zu sehen, muss von Auge und Gehirn die Adaptation an Helligkeit und Dunkelheit erfolgen. Die Bilder beider Augen werden im Gehirn zu einem einzigen Seheindruck verschmolzen, dieses beidäugige Sehen ist die Basis für das dreidimensionale = Stereosehen. Die Voraussetzung dafür ist eine freie Beweglichkeit = Okulomotorik der Augen in alle Richtungen, harmonische Blicksprünge = Sakkaden und Folgebewegungen. Die Netzhaut wandelt die elektromagnetischen Wellen in Nervenimpulse um und leitet sie über den Sehnerv ins Gehirn weiter. Dort erfolgen ein detailgetreuer Aufbau des Bildes und schließlich die Bewusstwerdung des Gesehenen. Bevor man ein Bild erkennen kann, muss die ankommende visuelle Information vereinfacht werden. Sie wird entschlüsselt/dekodiert, dann wieder verschlüsselt, verarbeitet und schließlich werden die Teilinformationen wieder zu einer Gesamtinformation in den höheren visuellen Verarbeitungsarealen zusammengeführt. 1.2.2 Voraussetzungen für die weitere cerebrale Verarbeitung Aufmerksamkeit verbessert die Informationsverarbeitung. „Die Zuwendung von Aufmerksamkeit wird manchmal mit einem Scheinwerfer verglichen, der eine Bühne beleuchtet. Er kann weite Abschnitte der Bühne schwach ausleuchten oder aber nur einen einzigen Darsteller mit einem grellen Lichtkegel über die dunkle Bühne verfolgen. Sowohl die Richtung als auch die Weite des Lichtkegels bestimmen, was sichtbar und was verborgen bleibt. Je enger der Lichtkegel ist, desto genauer muss die Richtung stimmen.“ (Goldenberg, 2007, S. 232) Unsere visuellen Bilder werden im Arbeitsgedächtnis kurzfristig behalten und bearbeitet. Sie sind dem Bewusstsein unmittelbar präsent. Die Kapazität ist beschränkt, neue Informationen verdrängen die alten. Die Inhalte des Langzeitgedächtnisses sind dauerhaft gespeichert. Sie verschwinden nicht gänzlich, wenn sich das Bewusstsein anderen Inhalten zuwendet und können zu einem späteren Zeitpunkt erneut abgerufen werden. (Goldenberg, 2007, S. 21) Die optischen Informationen, die über die Sehbahn in das primäre Sehzentrum im Hinter-hauptlappen des Gehirns geleitet werden, werden von dort in viele sekundäre visuelle Verarbeitungsareale geschickt und bearbeitet, wobei ständige Rückkopplungen schließlich eine genaue Abbildung ermöglichen. 1.2.3 Ventrale Weiterverarbeitung Im Schläfenlappen (= occipitotemporaler, ventraler oder „Was- und Wer-Pfad“) erfolgt die Analyse in eigenen Arealen für Farbe, Formen, Figuren, Objekte, Buchstaben, Gesichter und Bedeutungsgebung (siehe Punkte 2.3.5 bis 2.3.8). 1.2.4 Dorsale Weiterverarbeitung Der Scheitellappen (= occipitoparietaler, dorsaler oder „Wo- und Wie-Pfad“) verwertet räumliche Beziehungen im Außenraum sowie zur eigenen Person und ermöglicht somit die visuomotorische Koordination (Auge-Hand-Koordination und Auge-Fuß-Koordination) und die zeitliche Orientierung (siehe Punkte 2.3.9 bis 2.3.12). Die Raumwahrnehmung beinhaltet die Bestimmung von Positionen, Richtungen, Größen, Längen, Winkeln und Entfernungen und ist die Basis für zeitliche Zusammenhänge. Die räumliche Orientierung an uns selbst macht uns unser Körperschema bewusst. Abb. 1: Cerebrale visuelle Verarbeitung im Gehirn mit dorsalem und ventralem Pfad. 1.3 Ursachen für CVI CVI kann bei anlagebedingten Störungen und bei Schädigungen des Gehirns auftreten. In einigen Fällen kann jedoch keine bestimmte Ursache gefunden werden. Eine Anzahl von Erkrankungen stellt ein erhöhtes Risiko für CVI dar (Bals, 2009, S. 14): - Gravierende anlagebedingte Schädigungen und Fehlbildungen des Gehirns - Frühgeburtlichkeit (Periventrikuläre Leukomalazie, PVL ist eine Schädigung der weißen Hirnsubstanz, welche die seitlichen Ventrikel umschließt) - Sauerstoffmangel bei der Geburt - Schädel-Hirn-Traumen, Hirnblutungen - Infektionen des zentralen Nervensystems (Meningitis, Enzephalitis), Intoxikationen (Vergiftungen), Metabolische Störungen (Stoffwechselstörungen) - Hydrocephalus, Hirndrucksteigerungen - Epilepsie „All diese Diagnosen können zu einer Beeinträchtigung des Sehens, zu Zerebralparese und Entwicklungsstörungen in praktisch jeder Kombination und Schwere führen.“ (Dutton, 2013, S. 10) 2 PÄDAGOGIK 2.1 CVI im pädagogischen Alltag Aus dem Blickwinkel der Pädagogik wird näher auf die Problematik eingegangen und CVI aus methodisch-didaktischer Sicht beleuchtet. So individuell der einzelne Mensch ist, so unter-schiedlich stellen sich auch die Beeinträchtigungen und Auswirkungen von CVI dar. Gedächtnisleistung und entwickelte Strategien der/des Betroffenen wirken kompensatorisch auf die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und die Teilhabe am Leben. Die folgende exemplarische Checkliste soll eine Hilfe zur Einschätzung visueller Auffälligkeiten sein. Der Begriff „Kind“ gilt für Schülerinnen und Schüler jeder Altersgruppe. Checkliste - Zeigt das Kind schwankendes Sehverhalten (abhängig von Tageszeit, Müdigkeit, Motivation)? - Hat das Kind Schwierigkeiten Farben richtig zu erkennen? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Erkennen von Formen und/oder Objekten? - Zeigt das Kind eine kurze Fixationszeit? - Kann das Kind nachschauen und mit den Augen folgen? - Hat es Schwierigkeiten Dinge zu sehen, die sich schnell bewegen? - Wird das Kind bei Arbeiten mit visuellen Aufgaben schnell müde? - Ist das Arbeitstempo bei visuellen Aufgaben verlangsamt im Vergleich mit dem anderer Kinder gleichen Alters? - Verweigert das Kind öfters visuelle Aufgaben oder zeigt es dabei ein passives Verhalten? - Benötigt das Kind vergrößerte Texte obwohl die Sehschärfe ausreichend ist? - Hat das Kind Probleme beim Blickwechsel (Heft-Tafel, Buch-Heft)? - Geht das Kind oft sehr nahe an die Lese-/Schreibvorlage heran? - Nimmt das Kind eine auffällige Haltung beim Lesen/Schreiben ein? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Lesen obwohl es die Buchstaben erkennt? - Hat das Kind Mühe von der Tafel richtig abzuschreiben? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Erlesen bestimmter Schriftarten? - Hat das Kind Probleme beim Lesen von schmalen Zeilen-/Zeichenabständen? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Lesen/Schreiben die Zeile zu finden? - Hat das Kind Schwierigkeiten sich im Heft/am Arbeitsblatt zu orientieren? - Hat das Kind Schwierigkeiten Einzelnes aus einer Menge zu filtern? - Übersieht das Kind öfter Details von einer Abbildung? - Hat das Kind Schwierigkeiten beim Verstehen von Bildern und Bildgeschichten? - Sieht das Kind oft einen Teil einer Seite oder eines Buches nicht? - Hat das Kind Schwierigkeiten akustische Informationen wahrzunehmen, wenn es visuell konzentriert arbeitet? - Hat das Kind Probleme, seine Sachen zu finden (in der Schultasche/im Bankfach/im Spind)? - Hat das Kind Schwierigkeiten zielsicher zu greifen? - Hat das Kind bei feinmotorischen Tätigkeiten Schwierigkeiten? - Malt das Kind oft über Linien hinaus und arbeitet ungenau? - Hat das Kind ein sehr auffälliges Schriftbild (schlampige Buchstaben, schreibt es unter oder über der Zeile)? - Fällt oder stolpert das Kind häufig? - Läuft das Kind öfters gegen Gegenstände? - Hat das Kind Probleme beim Stiegen steigen? - Übersieht das Kind Bodenunebenheiten? - Hat das Kind Probleme beim Einschätzen von Entfernungen? - Äußert das Kind Probleme beim Sehen bei veränderten Lichtverhältnissen - Licht/Schatten? Kneift es die Augen zu? - Bewegt sich das Kind oft unsicher (motorische Ungeschicklichkeit)? - Hat das Kind Mühe, sich selbständig anzuziehen? - Will das Kind gerne an der Hand gehen? - Hat das Kind Probleme Gesichter zu erkennen? - Fällt es dem Kind schwer, Gesichtsmimik zu erkennen und richtig zu deuten? - Hat das Kind Schwierigkeiten bekannte Personen auf Bildern zu erkennen? - Vermeidet das Kind Blickkontakt (z.B. beim Händeschütteln)? - Hat das Kind Probleme bekannte Personen zu finden, wenn sie in einer Gruppe stehen? Sollten mehrere Punkte zutreffen, ist eine genaue interdisziplinäre Abklärung zielführend. Voraussetzung ist die augenmedizinische Untersuchung und bestmögliche Versorgung mit Hilfsmitteln. Darauf aufbauend werden gemeinsam mit dem Kind und dem Umfeld Strategien zu den jeweiligen Herausforderungen entwickelt. „What and how does this child see?“ Nach Hyvärinen sind primär die Fragen WAS und WIE zum Sehen des Kindes zu klären und zu unterscheiden, welcher Natur die Probleme des Kindes sind. - Sind primäre Sehfunktionen des Kindes betroffen? Sehschärfe, Kontrast, Gesichtsfeld? In diesem Fall: Versorgung mit Hilfsmitteln, Adaptionen - Ist der Verarbeitungsprozess gestört? In diesem Fall: Strategien, Gedächtnistraining, Verständnis - Sind Aufnahme und Verarbeitungsprozess gestört? Dann kommen sowohl Hilfsmittel als auch Strategien zum Einsatz. 2.2 Vorgehensweise bei Verdacht auf CVI - Abklärung durch einen Facharzt/eine Fachärztin für Augenheilkunde - Abklärung durch einen Orthoptisten/eine Orthoptistin - gegebenenfalls neurologische und/oder (neuro-)psychologische Untersuchung, - wenn eine organische Störung ausgeschlossen wurde - Anamnese (auch in Bezug auf andere Erkrankungen/Störungen) - genaue Beobachtung des Kindes über einen festgelegten Zeitraum mit schriftlichen Aufzeichnungen durch die Lehrer/Lehrerinnen - Gespräch mit den Eltern/Erziehungsberechtigten über die weitere Vorgangsweise - Kontaktaufnahme mit einem/einer ausgebildeten Sehbehindertenpädagogen/in - Erstellen eines sehbehindertenpädagogischen Gutachtens - Erstellen eines Förderplanes unter Einbeziehung aller Beteiligten - Veränderung/Verbesserung der Rahmenbedingungen - (z.B. Sitzplatz, Raumgestaltung, Lichtbedarf, Zeitzugabe) 2.3 Wichtige Bereiche der cerebralen visuellen Informationsverarbeitung Für die Verarbeitung aller sensorischen Informationen (visuell, akustisch, taktil, ...) gibt es wesentliche Voraussetzungen. Teilhabe und Lernen erfordern: Aufmerksamkeit, Konzentration, Wachheit, Neugierde, Freude und Motivation. Diese Faktoren können beeinträchtigt sein durch: - Probleme, Sorgen und Ängste des Kindes - Schmerzen, z.B. bei spastischen Paresen - "Nichtakzeptanz" der Besonderheit des Kindes durch sein Umfeld - sedierende/dämpfende Medikamente, z.B. bei Epilepsie 2.3.1 Visuelle Aufmerksamkeit Im schulischen Bereich kommt der visuellen Aufmerksamkeit ein besonderer Stellenwert zu. Sehen ohne Aufmerksamkeit ist praktisch nicht möglich. Ein besonders gutes Beispiel für diese enge Verzahnung stellen Gesichtsfeld und Aufmerksamkeit dar. Die Verteilung von Aufmerksamkeit im Gesichtsfeld einerseits und die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gesichtsfeldbereich garantieren erst, dass aus einem Sehfeld ein Aufmerksamkeitsfeld wird. Die Größe des Aufmerksamkeitsfeldes entscheidet, welcher Ausschnitt der Umgebung besonders genau und zuverlässig auf- und damit wahrgenommen werden kann. Es kann vorkommen, dass winzige Details gesehen, aber größere Objekte übersehen werden. Oft hört man die Aussage: „Das Kind sieht nur, was es sehen will!“ Im Normalfall ist es möglich, die visuelle Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was man sehen will. Bei Kindern mit CVI sind viele höhere Hirnfunktionen und die dazugehörige Aufmerksam-keit beeinträchtigt, auch sind die notwendigen Kontrollfunktionen für das Richten der Aufmerksamkeit nicht ausreichend entwickelt. Hinweise wie „Schau genau“ oder „Gestern hast du das aber gut gesehen“ helfen nicht! Schwankendes Sehverhalten ist ein besonders häufiges Merkmal von CVI. Zihl führt aus, dass die visuelle Aufmerksamkeit entweder extern durch äußere Reize oder intern gesteuert wird. (Zihl, 2012, S. 30) Liegt eine Sehbehinderung vor und kann die visuelle Wahrnehmung durch Brillen und optische Hilfsmittel nicht weiter gesteigert werden, sind die Bilder oft blass und uninteressant. Vergrößerungen, Kontraststeigerungen und farblich differenzierte Darstellungen verbessern die Wahrnehmungsmöglichkeit und erhöhen damit die Aufmerksamkeit. Durch Augen- und Kopfbewegungen können irreversible Gesichtsfeldeinschränkungen teilweise ausgeglichen werden. Das Erlernen von Strategien ? bei Sehaufgaben, beim Absuchen von Bildern und Texten ? ein Plan im Richten und Durchhalten der Aufmerksamkeit ist sehr wichtig. * Aus der Praxis (alle Namen in den Praxisbeispielen sind abgeändert) Leopold hat Schwierigkeiten Gegenstände und Personen in einem Raum zu finden, wenn diese nicht genau in seinem Aufmerksamkeitsfeld liegen. Eine Mitschülerin setzte sich bei einem Suchspiel auf den Boden. Obwohl Leopold direkt vor ihr stand, konnte er sie nicht finden. Erst durch die Verknüpfung mit einem Geräusch wurde er auf das Kind im unteren Bereich seines Blickfeldes aufmerksam. Es ist ihm nicht bewusst, dass er seinen Kopf und auch den Blick in alle Richtungen wenden muss, um etwas zu entdecken. 2.3.2 Visuelles Gedächtnis Beim visuellen Gedächtnis unterscheiden wir zwischen Arbeits- und Langzeitgedächtnis. Das Arbeitsgedächtnis brauchen wir für die kurzzeitige Bearbeitung und Lösung einer Aufgabe: Abschreiben von der Tafel, Lösen einer Textrechnung. Im Langzeitgedächtnis speichern wir alle unsere Erfahrungen und Erlerntes: Buchstaben, Zahlen, Lerninhalte, Landkarte von Österreich, Schulausflug nach Schönbrunn. 2.3.3 Crowding (Trennschwierigkeiten) Unter Crowding versteht man die Schwierigkeit, eng beieinanderliegende visuelle Eindrücke (wie z.B. Buchstabenfolgen) zu verarbeiten. Konturen werden nicht klar abgegrenzt gesehen, sondern verschwimmen ineinander (siehe S.74). Kleine Details in Texten und Bildern werden nicht wahrgenommen. In Schulbüchern werden Texte oftmals farbig hinterlegt oder in Abbildungen hineingedruckt, was das Lesen sehr erschweren kann. Hilfen: Textvergrößerung und Erweiterung des Buchstaben- und Zeilenabstandes, klare und übersichtliche Gestaltung eines Arbeitsblattes, einfarbiger, kontrastreicher Texthintergrund. Manche Kinder können einen Text auf einem weißen Blatt besser lesen, als auf liniertem oder kariertem Papier. Die vergrößerten Speziallineaturen für sehbeeinträchtigte Kinder helfen manchen Kindern sehr, andere werden dadurch irritiert. (Hyvärinen 2011, S. 123 - 130) 2.3.4 Bewegungswahrnehmung Visuelle Erkennungsprobleme können vorkommen, wenn sich Kinder selbst bewegen oder Bewegungsabfolgen in der Umgebung zu rasch sind, um wahrgenommen zu werden. Um mit der Umwelt in geeigneter Weise zu interagieren, muss die Wahrnehmung von körpereigenen Bewegungen und von sich bewegenden Personen oder Gegenständen (z.B. Fahrzeuge) funktionieren. Eine beeinträchtigte Bewegungswahrnehmung hat zur Folge, dass nur statische oder sich langsam bewegende Objekte gesehen werden. Schnelle Bewegungsabläufe, wie etwa beim Sport, im Straßenverkehr oder auch eine rasche Bildabfolge bei Filmen (Comics) bereiten Schwierigkeiten oder machen Angst. *Aus der Praxis Manuel hat großen Spaß in den Turnstunden. Allerdings vermeidet er Lauf- und Ballspiele bei denen sich viele Kinder schnell bewegen. Er sucht sich meist eine ruhige Ecke und wartet ab, bis das Spiel zu Ende ist. Bei solchen Spielen sollte ihm die Teilnahme freigestellt und ruhige Übungen als Alternative angeboten werden. 2.3.5 Farbwahrnehmung Wenn Kinder sehr lange Zeit Farben nicht benennen, diese aber richtig zuordnen können, liegt eine Bezeichnungsunsicherheit oder ein Sprachgedächtnisproblem vor. Können Farben auch nicht richtig zugeordnet werden, dann kann eine Farbenblindheit (cerebrale Achromatopsie) oder eine Störung der Farbwahrnehmung (Dyschromatopsie) vorliegen. Rot- oder Grünblindheit/-schwäche, die vor allem bei Buben vorkommen kann, hat ihre Ursache in einer Zapfenfehlfunktion in der Netzhaut und ist nicht mit reduziertem Sehen kombiniert. Eine komplette Farbenblindheit auf Netzhautebene ist durch die gleichzeitige hohe Blendempfindlichkeit und sehr geringe Sehschärfe auffällig. Abb. 2: Nina übt Farben zuzuordnen, sie legt bunte Bausteine in gleichfarbige Teller. Abb. 3: Ein Kind versucht mit bunten Ostereiern vorgegebene Farbreihen richtig nachzulegen. 2.3.6 Form-, Figur- und Objekterkennung Die Erkennung von zweidimensionalen Formen und Figuren und die Wahrnehmung von dreidimensionalen Objekten gehört zu den komplexesten und schwierigsten Aufgaben unseres Sehsystems. Formen werden aus einzelnen Strichen, oft perspektivisch verändert, zusammen-gesetzt. Interessante Figuren müssen optisch vom Hintergrund herausgelöst werden. Den Dingen muss auch eine Bedeutung zugeschrieben werden: Die rote Kugel ist ein Ball zum Spielen oder ein Apfel zum Essen. *Aus der Praxis: Ein Vorschulkind entdeckt im Wimmelbilderbuch „Auf dem Bauernhof“ alle roten Häuser, hält aber auch den roten Traktor im Hintergrund für ein Haus. Ein Bub, der in jeder Hand einen roten Eimer trägt, wird als „Junge auf Fahrrad“ bezeichnet. Ein rundes Aststück wird als „Wurst“ bezeichnet. (Mundhenk, 2008, S. 9) Es ist offensichtlich so, dass aufgrund von Ähnlichkeiten Rückschlüsse gezogen werden. Ungleiche Objekte werden durch das Auftreten einiger Ähnlichkeiten als gleich eingeschätzt. Anhand von wenigen Details wird versucht, Objekte zu erkennen, dadurch entstehen Verwechslungen. Die folgenden Bilder zeigen Darstellungen von Früchten und Gemüse. Die Unterscheidung wird im ersten Fall (Banane, Erdbeere) durch die Farbe und die Form leichter fallen als im zweiten Beispiel (Tomate, Kirsche). Abb. 4a, 4b: Auf Bildern sind jeweils zwei Früchte nebeneinander dargestellt Abb. 4a: Banane und Erdbeere, Abb. 4b: Tomate und Kirsche Für die Objektbestimmung nehmen die Kinder sehr schnell andere Sinne zu Hilfe. Sie greifen den Gegenstand an und versuchen, die Oberflächeneigenschaften zu ertasten, sie riechen bzw. stecken die Dinge zur oralen Analyse in den Mund. Die Form- und Objekterkennung muss durch das wiederholtes Anbieten unterschiedlicher Materialien geübt werden: realer Gegenstand, Gegenstand aus Holz, Plastik, Stoff, Relief, Bilder des Gegenstandes, sodass sie nicht nur visuell, sondern auch taktil gespeichert werden können. Abb. 5a, 5b: Beispiele zur Objekterkennung Abb. 5a: Schweine in verschiedenen Ausführungen: Foto, Zeichnung, Stofftier, Glücksschweinchen, Sparschwein Abb. 5b: Pferde und Schafe in zweidimensionaler (Bild) und in dreidimensionaler (Plastiktiere) Darstellung. *Aus der Praxis: Lisa konnte lebende Hasen nicht erkennen und benennen. Ihr Stofftier steht für den Begriff „Hase“. Ein Gegenstand/Tier wird von ihr nur in einer bestimmten Form abgespeichert und wiedererkannt. Die Fähigkeit zu vergleichen und zu abstrahieren ist bei dem Mädchen beeinträchtigt. Beim LEA-Puzzle werden spielerisch die Teile ineinander gefügt und benannt. Dabei wird auf den Wortschatz der Kinder eingegangen (z.B. Apfel oder Herz, Fenster oder Viereck). In den meisten Fällen gelingt die Zuordnung über die farbige Darstellung leichter als über die schwarz-weiße Seite. Im nächsten Schritt werden die Formen den zweidimensionalen Abbildungen zugeordnet (www.lea-test.fi). Abb. 6a: Farbiges LEA Puzzle mit den Formen Haus, Kreis, Apfel und Quadrat. Abb. 6b: Nina ordnet die schwarz-weißen Formen des Lea Puzzles den entsprechenden Bildern zu. * Objektkonstanz Durch Angreifen und Drehen eines Gegenstandes empfängt das Kind verschiedene optische Ansichten: Ein Auto bleibt ein Auto, ob von vorne, von hinten, von der Seite, von oben oder unten betrachtet. Der Rauchfangkehrer in der Bildfolge unten bleibt ein Rauchfangkehrer aus allen Richtungen betrachtet, egal ob er steht oder liegt. Die Fähigkeit, Objekte aus unterschiedlichen Richtungen zu erkennen, bildet die Grundlage für die Objektkonstanz. Abb. 7a-e: Auf der Bildfolge ist ein kleiner Rauchfangkehrer (Silvester-Glücksbringer) in verschiedenen Positionen zu sehen: liegend von vorne, stehend von hinten, vorne und seitlich, liegend von oben. * Gestaltschließen (visual closure) Darunter versteht man die Fähigkeit gestrichelte/unvollständige/teilweise verdeckte Linien zu einer vollständigen Figur zu ergänzen, d.h. von einer Teilinformation auf das Ganze schließen. Fehlt diese Funktion, kann das Kind oft keinen Zusammenhang im Bild herstellen. Abb. 8: Punkte sollen zu einer vollständigen Figur verbunden werden. Abb. 8a: Apfel, Abb. 8b: Schnecke * Figur-Hintergrund-Erkennung Figur-Hintergrund-Erkennung ermöglicht die Verarbeitung vieler visueller Informationen zur gleichen Zeit und die Trennung von Vordergrund und Hintergrund. Kinder mit CVI haben mit dieser Verarbeitung mitunter große Schwierigkeiten. Im Schulalltag macht sich diese Problematik bemerkbar, indem zum Beispiel Hefte/Bücher in der Schultasche oder im Bankfach nicht gefunden werden können. Die Kinder finden sich auf ihrem Arbeitsplatz nicht zurecht und brauchen einen genauen Ordnungsrahmen (farbige Heftumschläge mit zusätzlichen Symbolen, bunte Mappen, gekennzeichnete Ablagefächer). Wichtig wäre es, im gesamten Umfeld des Kindes eine „visuell ruhige“, geordnete Umgebung zu schaffen. Abb. 9a-c: Steine, Muscheln, Murmeln, Knöpfe und andere kleine Gegenstände auf einfarbigem, auf schwach und auf stark gemustertem Hintergrund. Das visuelle Erkennen muss Anschluss an das Langzeitgedächtnis (semantisches Gedächtnis = Bedeutung) und an die Sprache finden, damit Objekte richtig benannt werden können (Perzeption und Assoziation). Bei Formerkennungsproblemen sollte man bedenken, dass Schwierigkeiten auch in der Sprachverarbeitung, also in der richtigen Benennung von Gegenständen und im auditiven Gedächtnis liegen können. 2.3.7 Buchstabenerkennung Die Evolution hat in unserem Gehirn eine eigene Region für die Erkennung von Schriftzeichen entwickelt. Sie ist eng verknüpft mit der Sprach- und motorischen Region zur Umwandlung der Grapheme in Phoneme und zur Schrift. Buchstaben bestehen aus senkrechten, waagrechten und schrägen Strichen sowie Rundungen. Es ist nicht egal ob der Strich zwischen zwei senkrechten Strichen waagrecht = H oder schräg = N ist oder ob der Strich bei den Buchstaben links nach oben = b, rechts nach oben = d, links nach unten = p oder rechts nach unten = q zeigt. Daher ist für das Erlernen der Buchstaben auch die Raum- und Richtungswahrnehmung erforderlich. *Aus der Praxis: Als die Eltern merkten, dass für Alexander Buchstaben völlig uninteressant waren und er damit weder Bedeutung noch Aussprache verknüpfen konnte, bastelten sie für ihn Buchstaben aus buntem Papier. Durch Zuordnung einer jeweiligen Farbe (z.B. E ist rot, B ist blau) konnte Alexander einfache Worte „lesen“. Sobald dieselben Worte in Schwarz-Weiß-Druck dargeboten wurden, war kein Lesen mehr möglich. Alexander konnte nicht die Figur der Buchstaben analysieren, er assoziierte die Farbe mit einem Buchstabenlaut. Abb. 10: Alexander beim Lesen der „bunten Wörter“. Abb. 10a: Esel und Abb. 10b: Zebra 2.3.8 Gesichtswahrnehmung Die Region der Gesichtswahrnehmung liegt im Schläfenlappen neben der Region für die Buchstabenerkennung. Dies erklärt das häufig kombinierte Vorkommen beider Störungen. Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie (aus dem Altgriechischem: prosopon - das Gesicht, agnosia - das Nichterkennen) bezeichnet die Unfähigkeit, bekannte Personen (sogar Eltern und Freunde) anhand ihres Gesichtes zu erkennen. *Aus der Praxis: Erst beim Kindergartenfest fiel die Gesichtsblindheit von Cem auf, da er seine eigene Mutter anfangs nicht fand. Diesmal waren mehrere Mütter mit Kopftuch anwesend. Erst das typisch gebundene Kopftuch ließ ihn seine Mutter entdecken. Menschen mit Prosopagnosie entwickeln Strategien, um mit der Störung umzugehen. Sie erkennen Menschen - an der Stimme, am Auftreten - am typischen Geruch, Parfum - an Größe, Statur, Bewegungsmuster und Gangart - an der Frisur und an Kleidungsgewohnheiten Sehr oft schauen die betroffenen Kinder andere Personen nicht an, obwohl sie sie sehen könnten. Sie betrachten sich selbst nicht im Spiegel und erkennen Gesichter am Foto hauptsächlich am Hintergrund oder an anderen Details. *Aus der Praxis: Julia (15 Jahre, geistige Behinderung, starke Körper- und Sehbehinderung) zeigte kein Interesse an Gesichtern, ihr Kopf war meist gesenkt. Anlässlich einer festlichen Veranstaltung schminkte sich die Mutter und bot das auch ihrer Tochter an. Durch die Verwendung von Lippenstift und Augen-Make-up bekam Julia Freude, ihr Gesicht im Spiegel anzuschauen. Diese Freude und Motivation hielt auch später an. Die Erkennung der Gesichtsmimik ist eine eigene Qualität der Wahrnehmung. Die Deutung des emotionalen Gesichtsausdruckes ist wesentlich im Zusammenleben mit anderen Menschen: Schaut mich die Lehrerin streng oder wohlwollend an? Ist die Mutter böse, habe ich etwas angestellt? Freut sich die Freundin oder hat sie Angst? 2.3.9 Räumlich perzeptive Wahrnehmung Darunter versteht man die Fähigkeit zur Einschätzung der Entfernung, Größe, Lage und des Neigungsgrades des Objektes zu anderen Objekten und zur eigenen Position. Abb. 11: Alexander versucht mit seiner Hand die Fingerspitze einer anderen Person zu treffen. Abb. 12: Die Untersuchungsperson hält einen Stift, Peter muss mit seinem Stift den anderen von oben treffen. Dafür sind Entfernungsschätzung und Stereosehen erforderlich. * Länge und Linienrichtung Um eine Figur zu erkennen, schauen wir zuerst auf die Konturen: Kontrastunterschiede, senkrechte, waagrechte, schräge Linien/Kanten und Umrandungen. Fehlt die Richtungswahrnehmung, so ist es auch nicht möglich Winkel richtig zu verstehen und diese korrekt nachzulegen, zu zeichnen und zu schreiben oder eine analoge Uhr abzulesen. Ein Teil unserer Buchstaben besteht nur aus Linien und Winkeln: Abb. 13: Grafik, die die Linien und Winkeln zeigt, aus denen Buchstaben bestehen. Die Linienorientierung ist auch bedeutsam für die Auge-Hand-Koordination, das Erkennen von komplexen Bildern und die Orientierung in der Umwelt. Abb. 14: Frau Dr. Lea Hyvärinen prüft die Linienrichtung mit dem LEA Briefkastentest (gelbe Scheibe mit einem Schlitz). Abb. 14a: Alexander steckt seinen „Brief“ durch den senkrechten Schlitz. Abb. 14b: Martin hält seinen „Brief“ waagrecht und erkennt nicht, dass der Briefkastenschlitz senkrecht steht. Die Begriffe Länge und Richtung/Orientierung sind so zentral in der Entwicklung der räumlichen Wahrnehmung, dass sie in Spiel- und Fördereinheiten immer wieder geübt werden sollen: gleich oder nicht gleich! Abb. 15: Für Alexander ist es unmöglich, den E-Haken in die gleiche Richtung zu drehen wie auf der Vorlage. Abb. 16: Frau Dr. Lea Hyvärinen prüft die visuelle und taktile Größenzuordnung der LEA Rectangles. (Rechtecke) 2.3.10 Räumlich kognitive Fähigkeiten Das sind die Fähigkeiten zur Verarbeitung und Transformation von räumlichen Informationen. Diesen Personen fällt es schwer, sich eine Veränderung (Drehung, Spiegelung) eines Objektes vorzustellen oder sie erkennen das Objekt aus einer anderen Perspektive nicht. Probleme ergeben sich z.B. bei konstruktiven Aufgaben und beim Kartenlesen. Abb. 17a: Landkarte von Österreich in richtiger Lage und Abb. 17b: um 180 Grad gedreht. 2.3.11 Visuomotorische und visuokonstruktive Fähigkeiten Sind die Fähigkeiten einzelne Teile aus denen Objekte bestehen, zu erkennen bzw. diese zusammenzufügen. Es kann sich dabei um eine zweidimensionale Zeichnung handeln, die aus mehreren Linien besteht (z.B. ein Buchstabe) oder um eine dreidimensionale Konstruktion (etwa ein Haus aus Legosteinen oder Spielsachen im „Überraschungsei“). Die Position der Teile zueinander, Längen und Winkeln müssen richtig erkannt werden, um etwas zu zeichnen oder zu bauen. Abb. 18a: Alexander beim Schienen legen und Abb.18b: Turm bauen. Der Bub geht dabei rein taktil vor. Sein Blick richtet sich nicht auf die Konstruktionen, die er in den Händen hält. * Auge-Hand-Koordination Das Zusammenspiel von Sehen und Greifen ist die Grundlage für die Entwicklung fein-motorischer Fähigkeiten. Die Feinmotorik hängt eng mit der grobmotorischen Entwicklung zusammen bzw. baut auf diese auf. Im Alltag gibt es viele visuelle Eindrücke auf die man mit Bewegung reagiert. Nahezu bei jeder Tätigkeit sind wir also auf eine gute Auge-Hand-Koordination angewiesen, um eine ziel-gerichtete Handlung zu setzen. Wenn die visuomotorische Koordination schwach ist oder ein sensorisches Integrations- oder Informationsverarbeitungsproblem vorliegt (es ist nicht möglich, zwei Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen - z.B. Schauen und Greifen), werden Unterschiede verschiedener Gegenstände taktil erkundet und erfasst. Abb. 19a-c: Matthias legt ein Puzzle ohne hinzuschauen, rein taktil versucht er die Formen einzufügen. Je mehr die Bewegungsfunktion beeinträchtigt ist ? z.B. bei Kindern mit Cerebralparese ? desto problematischer ist die visuomotorische Koordination. Gleichzeitiges Schauen und Tun gelingt kaum über einen längeren Zeitraum, da es zu anstrengend ist. * Auge-Fuß-Koordination Für Menschen mit CVI können taktile und akustische Informationen, die die Umgebung und die Bodenbeschaffenheit betreffen, hilfreich sein. Schwierigkeiten treten auf beim Gehen auf unebenem Untergrund (z.B. Wiese, Schotter, Waldboden) und bei Übergängen (z.B. Schwellen, Zebrastreifen, Teppich, unterschiedliche Böden). Stufen und Gehsteigkanten erfordern eine gute Auge-Fuß-Koordination und ein richtiges Einschätzen der Höhenunterschiede. Ein notwendiges Hilfsmittel für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen ist der Langstock, der auch Blindenstock oder weißer Stock genannt wird. In der finnischen Schule Jyväskylä wurde gemeinsam mit Lea Hyvärinen der „Pathfinder“ als Mobilitätshilfe für junge Kinder entwickelt. Die Anwendung ist einfach und erfordert kein Training in einer speziellen Technik. Mit dem „Pathfinder“ ist es möglich, die Beschaffenheit und Oberflächenstruktur des Unter-grundes zu erfahren. Abb. 20a-c: Kinder erforschen mit dem Pathfinder eine unebene Bodenbeschaffenheit (Wiese, Wald, Schnee) 2.3.12 Räumlich topografische Orientierungsleistungen Das sind die Fähigkeiten zur Orientierung im Raum, zur Orientierung am eigenen Körper und zum Erfassen der geografischen Relationen. Personen mit einer Beeinträchtigung der visuell-räumlichen Fähigkeiten fällt es z. B. schwer, Wege zu finden. Die Störung kann so ausgeprägt sein, dass sich die Betroffenen nicht einmal im eigenen Zimmer zurechtfinden können. Abb. 21a: Alexander im Klassenzimmer und Abb. 21b: im Stiegenhaus. Er verwendet für die Bewegung im Raum Blindentechniken. Das Kind muss erst alle alltäglichen „Bilder“ aus seiner Umgebung erfahren und speichern, um beim nächsten Mal alles wiederzuerkennen: den Arbeitsplatz, die Schulklasse, das Kinder-zimmer, die Busstation, … *Aus der Praxis: Max geht auf die Toilette und findet im Klassenzimmer nicht zu seinem Platz zurück. Er kann seinen Tisch nicht wiedererkennen und hat den Weg nicht abgespeichert. Jedes Mal erscheinen ihm der Weg und die Umgebung neu. Üblicherweise werden beim Eintreten in einen Raum die Grundstruktur und die Umgebung unbewusst wahrgenommen und gespeichert (Einrichtungsgegenstände, Fensterseite, Türseite). Da bei Kindern mit CVI das Sehvermögen oftmals schwankt und/oder Merkmale rein optischer Natur nicht als Orientierungshilfen abgespeichert werden können, ist es notwendig, sogenannte „Landmarks“ auch multisensorisch einzusetzen. (Mundhenk, 2008, S. 17) * Körperschema Unter Körperschema versteht man das Bewusstsein der Lage aller Körperteile zueinander und es bildet die Grundlage für die Orientierung im Raum. Die Wahrnehmung des eigenen Körperbildes schafft eine innere Karte, die uns hilft Bewegungen zu koordinieren und Unterschiede von Richtungen zu differenzieren (oben/unten, hinten/vorne, rechts/links). Die Orientierung an unserem eigenen Körper ist wesentlich beim Ankleiden. Menschen mit einer Körperschemastörung haben Schwierigkeiten, ihre Kleider in die richtige Richtung zu drehen, um ihre Arme, Beine oder den Kopf durch die entsprechenden Öffnungen zu stecken - sie „wurschteln“ sich hinein. Abb. 22a-c: Alexander bemüht sich, seine Schultasche richtig auf den Rücken zu nehmen. 2.3.13 Allgemeine sensorische Informationsverarbeitung Die Integration aller Sinnesinformationen und die allgemeine Reizverarbeitung sind Prozesse, die viel Gehirnaktivität verlangen. Im Laufe der Entwicklung entsteht Kontrolle darüber und ein persönliches Gleichgewicht. Diese Sinnesabstimmung oder sensorische Integration oder sensorische Integrations-verarbeitung kann gestört, beziehungsweise nicht entwicklungsgemäß ausgebildet sein. Allgemeine Probleme in der sensorischen Integration gibt es auch bei Kindern mit CVI. Diese Kinder schauen jemanden nicht an oder schauen weg, während sie sprechen oder eine motorische Aktivität ausüben. Viele Kinder zerlegen ihre Aktivitäten: Zuerst schauen sie, dann agieren sie ohne zu schauen (z.B. tasten). Alle Menschen haben wohl schon die Erfahrung gemacht, dass es manchmal zu helle, zu laute, zu schrille oder zu viele visuelle Eindrücke gibt. Bei solchen Reizen möchte man sich am liebsten wegdrehen oder gar weggehen. Das Umgekehrte gibt es aber auch, nämlich dass etwas zu wenig laut, zu wenig bewegt, zu farblos oder zu unklar ist, um es gut wahrnehmen zu können. *Aus der Praxis Nikis Mitschüler sind sehr lebhaft. Jedes noch so kleine Geräusch lässt ihn erschrecken. Damit er sich auf seine Arbeiten konzentrieren kann, wurde für ihn eine ruhige Arbeitszone geschaffen (Arbeitskoje, Verwendung von Kopfhörern). Abb. 23a, 23b: Es sind zwei Räume zu sehen, in denen durch Kästen und Raumteiler Ruhezonen geschaffen wurden, um Ablenkungen aus der Umgebung zu vermeiden. 2.4 Lesen, Schreiben und Rechnen lernen mit CVI Lesen, Schreiben und Rechnen lernen stellt oft eine besondere Herausforderung für Kinder mit CVI dar. 2.4.1 Deutsch, Lesen und Schreiben Manche Kinder sagen: „Es ist, als ob die Buchstaben miteinander tanzen würden“. Schreiben lernen ist nur dann möglich, wenn das Zusammenspiel Auge-Hand funktioniert, wenn die Raumorientierung exakt wiedergegeben wird (H/N, b/d, p/q) und Buchstaben und Zahlen als Figuren wiedererkannt werden. In den Volksschuljahren benötigen alle Kinder und im besonderen Maße Kinder mit Beeinträchtigungen größere Buchstaben und Zahlen mit weiten Abständen zwischen den Zeichen. Das visuelle System entwickelt sich bis zum 12. Lebensjahr. Zu kleine und zu eng beisammenstehende Buchstaben verschwimmen ineinander = Crowding oder Trennschwierigkeiten (siehe Augenheilkunde). Erst mit der optimalen Ausreifung von Netzhaut, Sehbahn und Sehzentren im Gehirn wird es möglich, klein gedruckte Texte mühelos zu lesen. Das ist auch die Erklärung, warum manche Kinder mit Legasthenie oft vergrößerte Arbeitsblätter und Kopien haben wollen, dies erleichtert ihnen das Lesen. Allerdings heißt das nicht, dass diese Kinder zwingend CVI haben. Legasthenie hat vor allem mit Sprach- und Klangverarbeitung zu tun. Lesen lernen erfordert - eine scharfe optische Abbildung in allen Entfernungen - (mühelose Akkommodation von der Tafel zum Heft und umgekehrt) - eine stabile Fixation - das Erkennen der Buchstaben - Blicksprünge entlang von Buchstabengruppen und entlang der Zeile - die Klangspeicherung im Arbeitsgedächtnis - (Merkfähigkeit von mindestens fünf Klangreihenfolgen) - ein planmäßiges Richten der Aufmerksamkeit über das Arbeitsblatt Für viele Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen ist es besser die Druckschrift statt der Schreibschrift zu verwenden, da die Schreibschrift motorisch sehr komplex ist und die Kinder damit überfordert sind. Wenn die eigene Handschrift (z.B. bei spastischer Parese) nur schwer leserlich ist, wäre es sinnvoll, auf die Arbeit am PC umzusteigen. Am Computer kann sich das Kind auf die Rechtschreibung konzentrieren. Handschrift wird geübt, um einfache Notizen und auch die Unterschrift machen zu können. 2.4.2 Mathematik und räumliches Gedächtnis Mathematikaufgaben erfordern eine sichere Orientierung im Zahlenraum, Wiedererkennung der Ziffern, eine korrekte Benennung und ein gutes Gedächtnis. Kinder mit mangelnder Körperwahrnehmung haben meist in jungen Jahren den realen Raum nur ungenügend erforscht und können daher den abstrakten mathematischen Raum nur schwer begreifen. Die Begriffe und Mengen von Einer, Zehner, Hunderter oder Tausender können nicht erfasst werden. Bei manchen Kindern ist das reale Verständnis nur im Zahlenraum bis fünf vorhanden, auch wenn sie weiter zählen können. Sogar in diesem Bereich gibt es oft nur auswendig gelernte Aufgaben und Antworten. Das Kind hat möglicherweise auch keine Vorstellung von dreidimensionalen Formen in der Geometrie und kann diese in Skizzen nicht erkennen. Durch Probleme in der visuellen Informationsverarbeitung scheitert das Kind oft an Aufgaben, die es eigentlich verstanden hat. Das Schauen auf eine Aufgabe kann das Zuhören blockieren. Einfache Hilfen können diese Schwierigkeiten oft lösen: - Augen schließen und bei einer Aufgabenerklärung nur zuhören - nur eine Aufgabe auf einem Blatt, vor allem bei Tests und Schularbeiten - eigenes System der Kinder beim Multiplizieren und Dividieren erlauben - bei den schriftlichen Grundrechnungsarten Zahlen, die man sich merken muss, extra notieren (Extrablatt) - geeignete Lineaturen - Für manche Kinder wird es einfacher, wenn sie für die Aufgaben ein Arbeitsblatt ohne Lineatur nehmen, andere Kinder orientieren sich besser auf einem karierten Blatt, wenn „jede Ziffern in ihrem Abschnitt bleibt“. - Computerprogramme wie beispielsweise Mathcad oder Geogebra können bei Problemen in der visuellen Informationsverarbeitung und/oder in der motorischen Koordination unterstützen (Hyvärinen 2011, S. 141 f). Durch Beobachten oder Mitfilmen kann oft die Ursache der Problematik gefunden werden. Sind die schulischen Leistungen nicht zufriedenstellend, sollte das Sehvermögen wiederholt durch Fachleute untersucht werden. Beispiele zur besseren Strukturierung von Arbeitsblättern: Abb. 24: Arbeitsblatt mit Textaufgabe. Schaffung von Strukturen durch Silbentrennung und große Abstände zwischen den Zeilen, farbige Zahlen und Kästchen zum Eintragen der Rechnung. Abb. 25: Arbeitsblatt mit Rechenreihen. Vergrößerte Zahlen, hoher Kontrast, Abtrennung zwischen den Reihen. 2.5 Checklisten nach Unterrichtsfächern Folgende Checklisten - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - stehen als Unterstützung für den Unterricht zur Verfügung *DEUTSCH/SCHREIBEN Das Kind - hat Probleme beim Nachspuren von Buchstaben - hat Probleme sich im Heft zu orientieren - beginnt irgendwo am Blatt zu schreiben - kann Zeilen und Kästchen nicht einhalten und schreibt darüber hinaus - lässt Zeilen/Seiten aus - verliert im Heft den Überblick - hat Probleme im Arbeitsbuch/am Arbeitsblatt Lösungen einzutragen - verwechselt visuell ähnliche Buchstaben - hat Schwierigkeiten beim Schreiben in Schreibschrift **WIE KANN ICH HELFEN: - Abstand des Kindes zur Tafel verringern - deutliches Schreiben an der Tafel - Markierungspunkte für das Kind setzen, v.a. bei längeren Texten (z.B. bei jedem Satz eine andere Farbe, damit das Kind beim Blickwechsel vom Heft zur Tafel die gesuchte Stelle leichter wiederfindet) - generell mehr „Blickpunkte“ anbieten (z.B. durch farbige Wörter, farbige Magnete, Unterstreichungen, übersichtliche Anordnung) - beim Abschreiben von Arbeitsblättern auf gut lesbare Schriftart achten - Texte (z.B. aus Büchern, Arbeitsblätter) vergrößert kopieren - deutliche Kopien (z.B. genügend Kontrast) - übersichtliche Gestaltung des Arbeitsblattes - Schreiben am PC - Speziallineaturen verwenden - Markierung an der Stelle, an der gelesen bzw. gearbeitet wird - eine Hilfe zum Abdecken von Teilabschnitten verwenden (z.B. Farbstreifen oder durchsichtiges Leselineal) *DEUTSCH/LESEN Das Kind - verliert beim Lesen die Zeile - weiß nicht, wo gerade gelesen wird - kann sich im Buch nur schwer orientieren - liest nicht sinnerfassend - verliert die Konzentration, ermüdet rasch - geht sehr nahe an die Vorlage heran - kann (manche) farblich unterlegten Texte schwer lesen - kann schwach Gedrucktes schwer lesen - kann manche Schriftarten nicht lesen - findet sich im Wörterbuch schwer zurecht **WIE KANN ICH HELFEN Schwierigkeiten bei der Orientierung in Texten - klare verbale Angaben, wo etwas zu finden ist - Markierungspunkte für wichtige Stellen (mit dickem Stift, Klebepunkt) - Lesezeichen verwenden - Leseschablone, die nur ein Sichtfenster für eine Zeile hat - Abdecken von Teilabschnitten - Suchhilfe durch Mitschülerinnen/Mitschüler erlauben - Lichtverhältnisse überprüfen (zu dunkel, Blendung) - Texte vergrößern - Texte kontrastreich gestalten - Textteile (Arbeitsblätter) teilen: falten, zerschneiden - bei selbst erstellten Arbeitsblättern: leserliche Schriftart, angepasste - Schriftgröße, ev. Fettdruck, Zeilenabstand erhöhen, Laufweite vergrößern - Texte in Büchern (farblich unterlegt, in Bildern) von anderen vorlesen lassen Bei der Arbeit im Wörterbuch - am Beginn nur kleine Abschnitte auswählen (nur eine Seite) - bei der Sucharbeit eine Abdeckung verwenden/weiterrutschen (Lesezeichen, farbiges Blatt) - Indexfarbstreifen bei Seiten mit Buchstabenwechsel als optische Orientierungshilfe *SACHUNTERRICHT Das Kind - hat Schwierigkeiten Gegenstände zu erkennen/zu benennen - hat Schwierigkeiten Nachbildungen von Gegenstände zu erkennen - hat Schwierigkeiten zweidimensionale Darstellungen zu erkennen/zu benennen - hat Schwierigkeiten beim Ausführen mehrerer Arbeitsschritte - findet sich im Stationenbetrieb nicht zurecht - kann nicht gleichzeitig zuhören und seine Arbeiten ausführen - kann Landkarten nicht lesen und/oder sich darauf orientieren - findet sich in farbig gestalteten Arbeitsunterlagen nicht zurecht - findet sich in Arbeitsvorlagen mit vielen Bildern/Tabellen nicht zurecht **WIE KANN ICH HELFEN - mit Anschauungsmaterial arbeiten - alle Sinne miteinbeziehen - Arbeitsschritte mehrfach wiederholen - „Auftragskärtchen“ (einfache grafische Darstellungen) verwenden - Arbeitsplan gemeinsam erstellen - Suchbereich auf Landkartenarbeit einschränken - Skizzen in mehrere zerlegen, z. B. nur Flüsse, nur Grenzen, nur Städte, ... - Arbeitsblätter vereinfachen oder nur Teile davon verwenden - Verwendung von Orientierungspunkten/Lesefenstern - Verwendung spezifischer Hilfsmittel (z.B. Visolettlupe) - Leselineal für Tabellen *MATHEMATIK Das Kind - hat Probleme sich im Heft zu orientieren - beginnt irgendwo am Blatt zu schreiben - lässt Kästchen/Seiten aus - schreibt Ergebnisse/Antworten in die falsche Zeile/Spalte - hat Probleme im Arbeitsbuch/am Arbeitsblatt Fehlendes einzutragen - verliert im Buch den Überblick - hat Probleme beim Erfassen von Textaufgaben - hat Probleme beim Erfassen/Bearbeiten von Tabellen **WIE KANN ICH HELFEN Probleme beim Schreiben der Ziffern und Zahlen - Spezialhefte oder vergrößerte Lineaturen verwenden - Ziffern auf unterschiedliche Weise erfassen (Tastziffern, Spuren im Sand, Wolle, Knetmasse, verschiedene Papierarten) - Schreiben am Computer Schwierigkeiten bei Mengenerfassung, Reihenfolgen - Anschauungsmaterial verwenden (Rechenschieber, Rechenkettchen, kleine Autos, Figuren) - Kinder längere Zeit auch mit den Fingern rechnen lassen - viele Zuordnungsaufgaben: Ziffern/Zahlen - Mengen Verwechslungen, Vertauschungen - beim Abschreiben aus dem Buch Markierungen/Abdeckungen verwenden - an der Tafel mit Farben/Markierungen arbeiten - Zeitdruck vermeiden Orientierung in Heften, Büchern - genaue verbale Angaben, wo etwas zu finden ist - Markierungspunkte für wichtige Stellen (mit dickem Stift, Klebepunkt) - Lesezeichen verwenden - Abdecken von Teilabschnitten - Leselineal vertikal verwenden *GEOMETRIE Das Kind - hat Probleme beim genauen Arbeiten - hat Probleme beim genauen Messen - hat Probleme beim Zeichnen von geometrischen Formen und Winkeln - hat Probleme beim Vergrößern, Verkleinern, Spiegeln, Vervollständigen **WIE KANN ICH HELFEN - spezielle Lineale, Messgeräte verwenden (farbig, kontrastreich) - geeignete Stifte, geeignetes Papier (am besten ausprobieren!) - Messtoleranz (vor allem im Millimeterbereich) - Zusatzmaterialien (taktiler farbiger Geometrieatlas) - Geometriesoftware: Geogebra, Mathcad - Aufgaben vereinfachen und zerlegen - keinen Zeitdruck *BILDNERISCHE ERZIEHUNG UND WERKUNTERRICHT Das Kind - zeichnet/malt nicht altersadäquat - vergisst beim Zeichnen wichtige Details (z.B. Augen, Schuhe, Fenster) - kann Begrenzungen beim Malen kaum einhalten - nutzt die Zeichenfläche nicht aus - hat Probleme beim handwerklichen Arbeiten, im Gebrauch von Werkzeug - hat Probleme beim Schneiden, Kleben, Falten - arbeitet ungenau und schlampig - hat Schwierigkeiten beim Ausführen mehrerer Arbeitsschritte **WIE KANN ICH HELFEN - positiv verstärken, nicht kritisieren (das Kind bemüht sich!) - konstruktive Rückmeldung geben - Anschauungsmaterial, Bilder, u.a. als Hilfestellung - geeignete Stifte/Farben - Begrenzungslinien verstärken - Orientierungspunkte am Zeichenblatt/am Werkstück - Unterstützung beim Gebrauch von Werkzeug - vereinfachte Aufgaben anbieten - Arbeitsschritte mehrfach wiederholen - „Auftragskärtchen“ anfertigen, die jederzeit nachverfolgt werden können *BEWEGUNG UND SPORT Das Kind - ist unsicher in den Bewegungsabläufen - zeigt verlangsamte Bewegungen - zeigt unrhythmische Bewegungsabläufe - hat Schwierigkeiten bei Wurf- und Fangbewegungen - stößt oft mit anderen Kindern zusammen - findet sich bei Spielen in der Gruppe nicht zurecht - verliert bei Spielen/Übungen die Orientierung - kann Entfernungen nicht richtig einschätzen - kann Objekte und Personen im Umfeld nicht wahrnehmen und darauf reagieren, wenn es sich selber bewegt **WIE KANN ICH HELFEN - das Kind möglichst oft positiv verstärken, es leidet meist unter der Situation - Spiele für alle anbieten, die kein schnelles Reagieren erfordern - Bewegungsspiele in Kleingruppen - Vermeiden von Ballspielen mit Gewinnern und Verlierern - Fangen und Werfen mit geeigneten Bällen erlernen (größer, farbiger, auffälliger) - keinen Zeitdruck ausüben (Wettspiele) - beim Teamsport farbige Jacken/Bänder - Markierungen im Raum um die Orientierung zu erleichtern *SOZIALE KOMPETENZ UND KOMMUNIKATION Das Kind - erkennt bekannte Personen nicht - erkennt Personen nicht aus einer Gruppe heraus - reagiert nicht adäquat auf Gestik und Mimik - erscheint unfreundlich/grüßt nicht - spricht niemanden an - lehnt Gruppenarbeiten ab - findet keine Partnerinnen/keine Partner bei Gruppenarbeiten und Spielen - weiß nicht, wo sein Platz ist - zeigt ungewöhnliche Reaktionen - hat eine lange Reaktionszeit **WIE KANN ICH HELFEN - selbst auffällige Merkmale einsetzen (Kleidung, Frisur, Schminke) - Sessel und Arbeitsplatz deutlich erkennbar machen - fixen Platz zulassen - Garderobenplatz/Spind markieren - gelenkte Partnerwahl - Rollenspiele in Kleingruppen, um sicherer in der Kontaktaufnahme zu werden - um Hilfe fragen lernen/unnötige Hilfe höflich ablehnen - Reihenfolge festlegen (z.B. in einem Spiel, bei einer Vorführung) - verbale Unterstützung bei mündlichen Arbeiten (z.B. Ankünden, wer an der Reihe ist) - unterstützende Materialien für Mimik und Gestik 2.6 Praktische Umsetzung im Unterricht Was im vorigen Kapitel konkret zu den einzelnen Gegenständen vorgeschlagen wurde, wird im Folgenden im Rahmen von Unterrichtsprinzipien, methodisch-didaktischen Maßnahmen und Strategien zum Ausgleich des Nachteils beschrieben. *Unterrichtsprinzipien - Verbalisieren von schriftlichen Informationen (z.B. an der Tafel, auf Arbeitsblättern) - klare Aussprache, Erklärungen bei Bedarf wiederholen - Arbeitsschritte trainieren, planmäßiges Arbeiten üben - Lern- und Arbeitstechniken trainieren - Individualisierung - Auswahlmöglichkeiten anbieten - Anpassung an die Leistungsmöglichkeit - alternative Aufbereitung des Lehrstoffes - Berücksichtigung der besonderen Problematik aufgrund der Wahrnehmungsdefizite *Gestaltung des Klassenraumes/Schulhauses - Arbeitsplatz in der ersten Reihe/zentral zur Tafel - günstige Licht- und Beleuchtungsverhältnisse - Blendung und Gegenlicht vermeiden - Arbeitsumgebung übersichtlich gestalten - Materialien/Unterrichtsmittel übersichtlich ordnen - „Überdekoration“ und Reizüberflutung vermeiden - Präsentationsplätze mit unifarbigem Hintergrund - farbliche Gestaltung der Umgebung - Markierung der Stufen und Wege Weitere Tipps unter www.optic-comenius.eu *Lernumgebung - für ein möglichst ruhiges, angenehmes Umfeld sorgen - Lärmpegel reduzieren - wenig Ablenkung durch andere Einflüsse - Arbeitsplatz abschirmen (Verwendung von Raumteilern, Ecken) - Ordnung am Arbeitsplatz schaffen - Arbeits- und Sozialform den Erfordernissen anpassen ´*Methodisch-didaktische Maßnahmen - individuelle Annäherung an Bilder und Objekte ermöglichen - kontrastreiches Tafelbild auf sauber gewischter Tafel - Tafeltext diktieren oder als Arbeitsblatt vorlegen - Lineatur-Sonderdrucke - geeignete Stifte für einen guten Kontrast - Kopien auf weißem oder blendfreiem Papier - matte Folien zum Laminieren verwenden - Arbeitsblätter und Aufgabenvorlagen vergrößern - Schriftart, Zeilenabstand und Laufweite anpassen - Adaptierung der Arbeitsblätter (z.B. kontrastreich, gut strukturiert, vereinfacht) - komplexe Unterrichtsmaterialien vereinfachen - Auswahl und Reduzierung der Aufgaben - Zeitzugaben gewähren *Leistungsbeurteilung - individuelle Lernfortschritte bewerten - alternative Formen der Leistungsüberprüfung anwenden - besondere Berücksichtigung individueller Stärken - Zeitzugaben bei schriftlichen Arbeiten (z.B. Schularbeiten, Tests, LZK) 2.7 Hilfestellungen und Hilfsmittel Die individuell angepasste optische Versorgung ist die Grundvoraussetzung - optische Brille, Bifokalbrille, Lichtschutzbrille, Kantenfilter, Visolettlupe, ... *Arbeitsplatz - blendfreie Beleuchtung, Einzelplatzleuchte - reizarme Umgebung („Kojen“, Nischen) - Tischplatte schräg gestellt oder Schrägpult Abb. 26a, 26b: Zwei Kinder bei der Arbeit am Schrägpult. Vergrößerte Speziallineatur, Schrift mit dickem Filzstift. *Lesen/Schreiben - Lesefenster, Lesestreifen - Hefte mit vergrößerter und farblich abgesetzter Lineatur - selbst hergestellte Speziallineaturen - Verwenden geeigneter Stifte (z.B. schwarzer Stift, radierbarer Filzstift) - Lesestein, Leselineal (optische Hilfsmittel) Abb. 27a, 27b: Zwei Schriftproben von Markus. Er konnte sich beim Schreiben im Heft gar nicht orientieren, die Linien waren zu dünn und zu unübersichtlich. Obwohl er mit schwarzem Filzstift schreibt, ist die Schrift kaum leserlich. Auf der Speziallineatur findet sich der Bub gut zurecht, er kann die Zeilen einhalten, das Schriftbild ist schöner, der Text besser zu lesen. Abb. 28a-c: Optische Sehhilfen (hier zur Vergrößerung von Text, Bildern und Karten in einem Lehrbuch) Abb. 28a: Leselineal, Abb. 28b: Lesestein, Abb. 28c: Leselupe mit Beleuchtung *Mathematik - spezielle Lineale und Maßbänder - starke Kontraste Abb.29a-c: Hilfsmittel für Mathematik Abb.29a: Speziallineatur, Abb. 29b: Zahlenstreifen, Abb. 29c: Lineale und Maßbänder für Sehbehinderte *Technische Hilfsmittel - elektronische Leselupen (auch mit Kamera) - PC mit betriebseigenen Anpassungen (erleichterte Bedienung) - geeignete Software (Vergrößerungsprogramm) - Monitor mit Schwenkarm - passende Tastaturen - Laptop, Tablet, iPad - Bildschirmlesegerät - Sprachaufnahmegerät - „sprechende Stifte“/Hörstifte - Smartphone (mit Sprachausgabefunktion) Abb. 30a-c: Elektronische Leselupen mit verschiedenen Farbeinstellungen. Abb. 30a: Echtfarbendarstellung, Abb. 30b: Gelbe Schrift auf schwarzem Hintergrund, Abb. 30c: Weiße Schrift auf blauem Hintergrund, stark vergrößert. Abb. 31a-c: Computertastaturen, die für sehbehinderte Anwender besonders geeignet sind. Abb. 31a: Tastatur mit hohem Kontrast, gelbe Tasten mit schwarzer, vergrößerter Aufschrift, Abb. 31b: Farbige Tastatur, besonders geeignet zum Erlernen des Zehnfingersatzes, Abb. 31c: Vereinfachte Tastatur mit großen, farbigen Tasten, deren besondere Anordnung die Bedienung erleichtert. Abb. 32a-c: Bildschirmlesegeräte mit Schwenkarm und Vergrößerungssoftware. Abb. 32a: Schüler beim Lesen eines Textes in Kontrastfarben (weiße Schrift auf schwarzem Grund), Abb. 32b: bei der Betrachtung geometrischer Formen und Abb. 32c: beim Lösen von Beispielen im Mathematikbuch. Abb. 33a, 33b: Kinder bei der Arbeit mit dem „Sprechenden Stift“ Abb. 33a: Lesen in einem Buch und Abb. 33b: Farb- und Formerkennung *Die Verwendung von Tablets oder iPads bietet für Kinder mit CVI viele Fördermöglichkeiten - Auge-Hand-Koordination - Formerkennung, Figur-Hintergrund-Unterscheidung - Zuordnung, Diskriminierung, Ordnen nach Größen - Buchstabieren, Lesen und Schreiben, Rechnen - Memoryspiele und Puzzles in verschiedenen Schwierigkeitsgraden - interaktive Bilderbücher - Apps (Application software) - Anwendungsprogramm Abb. 34 a-c: Kinder beim Arbeiten mit dem App Lilly & Gogo Auch zur Gesichtserkennung lassen sich Tablet und iPad einsetzen, durch die Kombination visueller und auditiver Eindrücke bieten sich viele Möglichkeiten. *Vorschläge für das Erkennenlernen von Gesichtern - Gesichterpaare zuordnen - Erfassen der Gesichtszüge taktil und in Bildern - Unterscheiden und Wiedererkennen von Gesichtsausdrücken - Spiele mit dem Spiegel - Zeichnen und Ergänzen von Gesichtern - „Verkleiden“ spielen/Verkleidungen erkennen und interpretieren. Wie sieht man mit anderer Frisur, Kopfbedeckung aus? Abb. 35a, 35b: Gesichtserkennung mit Fotos und Tablet Abb. 35a: Ein Bub ordnet gleiche Fotopaare zueinander, die Gesichter von Familienmitgliedern zeigen. Abb. 35b: Fotos von Personen auf dem Tablet sollen vom Kind wiedererkannt werden. 2.8 Berichte 2.8.1 Kein Problem zu Hause Teambericht: Mutter, Klassenlehrerin und Sehbehindertenpädagogin Samuel besucht derzeit die 3. Klasse Volksschule. Er hat eine medizinisch sehr schwierige Kleinkindzeit hinter sich. Für seine Eltern ist es ein Geschenk, dass ihr Sohn Samuel am Leben ist und sich allen Prognosen zuwider gut entwickelt hat. Bei der psychologischen Diagnostik wird er als durchschnittlich intelligentes Kind mit cerebralen Verarbeitungsproblemen und einem gewissen Rückstand in der psycho-sozialen Entwicklung beschrieben. Die Eltern wollten einen Bericht schreiben, zogen aber dann zurück, weil Samuel für sie als Einzelkind „so ist wie er ist“ und mit seinem „Sosein“ auch die Familie prägt. Sie meinten, dass sie über Samuel nichts Besonderes schreiben könnten. Ähnliches berichtete auch die mobile Sehbehindertenlehrerin, die wöchentlich zu ihm an die Schule kommt. In der Einzelförderung gibt es keinerlei Probleme. Seine Klassenlehrerin, Frau G., schickte uns folgenden Bericht: Samuel ist ein sehr aufgeschlossenes und lebensfrohes Kind. Er geht ohne Probleme auf Menschen zu und bindet sie an sich. Sobald er einen Druck - welcher Art auch immer - verspürt, hängt es sehr von der Tagesverfassung ab, wie er damit fertig wird. Er braucht sehr lange Zeit, um mit vergangenen Problemsituationen abschließen zu können. Er wärmt alte Geschichten immer wieder auf und knüpft sie an Banalitäten. Samuel braucht sehr klar definierte Regeln und Tagesabläufe (Rituale). Sobald diese aus dem Gleichgewicht sind, gibt es lautstarken Protest. Besondere Stresssituationen sind grundsätzlich Wandertage, Ausflüge und für ihn nicht vorhersehbare Aktivitäten. Die Ausdauer bei der Arbeit konnte er steigern - natürlich wieder abhängig von der Tagesverfassung. Große Probleme gibt es immer wieder beim Erlernen von neuen Lerninhalten (z.B. Malreihen). Er braucht eine lange Phase, um sich einzuarbeiten, obwohl er es im Prinzip von Anfang an verstanden hat. Samuel ist vom Hören überempfindlich - bei Lärm hält er sich sofort die Ohren zu. Bis zu einer halben Stunde im Vorhinein beschäftigt ihn das kommende Läuten des Pausengongs. In dieser Zeit ist dann nichts mit ihm „anzufangen“. Turnstunden stellen für ihn eine ziemliche Überforderung dar, da er Lärm gekoppelt mit Bewegung und Schnelligkeit schwer verkraftet. In der ersten und zweiten Klasse sind die Schulbücher prinzipiell mit großer Schrift verfasst. Extralektüre (z.B. „Kleines Volk“) - mit normaler Schriftgröße - bereitet ihm Schwierigkeiten beim Lesen, besonders im Lesefluss. Das Leselineal nimmt er nur dann zu Hilfe, wenn man ihn daran erinnert. Damit liest er deutlich schneller und besser. Große Freude und Erleichterung ist immer die Arbeit mit seiner Sehbehindertenlehrerin, weil sie auf seine individuellen Bedürfnisse eingehen kann (z.B. das Erlernen des Zehn-Fingersystems am Computer). Er erledigt seine Aufgaben um einiges schneller, wenn er den zweiten Teil seiner Arbeit zur „Belohnung“ am Computer schreiben darf. Das gleiche Prinzip gilt auch für zu Hause beim Erledigen seiner Hausaufgaben. 2.8.2 Mein besonderes Kind Matthias Teambericht: Mutter, Klassenlehrerin, Augenärztin „In der Schwangerschaft habe ich mir oft gedacht, ich wünsche mir ein Kind, das besonders ist. Welche Mutter nicht? Dass mein Matthias ein Kind mit besonderen Bedürfnissen wird, hätte ich mir da nie vorgestellt.“ Pünktlich zum Termin kam Matthias im Jahr 2000 als unser erstes und einziges Kind zur Welt. Gleich als wir Matthias gesehen haben, sind uns in seinen damals blauen Augen auf beiden Seiten weiße Flecken aufgefallen, wir hatten aber noch nichts Schlimmes gedacht. Am nächsten Tag kam die Kinderärztin und hat mir zu verstehen gegeben, dass diese Flecken in den Augen nicht normal sind. Bald war klar, er hat auf beiden Augen ein Kolobom. Bei diesem Kolobom handelt es sich um eine seltene Fehlbildung des Auges. Dann kam die nächste Katastrophe: Matthias hörte am 7. Tag einfach zu atmen auf, sein erster Epi-Anfall, es sollten noch viele folgen, bis er im Alter von 14 Tagen einen Status Epileptikus hatte und in den künstlichen Tiefschlaf versetzt wurde. Keiner der Ärzte konnte uns Auskunft über seine Chancen geben, nicht einmal wie lange er noch leben würde. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen folgte. In den ersten beiden Jahren war Matthias sehr oft krank. Er schlief höchstens 9 bis 10 Stunden, den Rest verbrachte er meist schreiend, manchmal bis zu 3 Stunden durchgehend pro Tag. Heute weiß ich, dass ein Großteil dieses Schreiens auf seine Informationsverarbeitungsstörung zurückzuführen war. Er fand sich in unserem Leben einfach nicht zurecht. Im Laufe der Entwicklung merkten wir erst, dass er mit allen Reizen, denen er ausgesetzt war, völlig überfordert war. Auch heute noch zeigt er seine Überforderung und reagiert in vielen Situationen sehr angespannt. Wir machten einen straffen Tagesplan und so sahen wir erstmals Entwicklungsschritte. Matthias konnte in einem geschützten Rahmen aufwachsen. Das Schreien wurde weniger, er schlief noch immer wenig, dafür aber relativ regelmäßig. Die Grundstruktur dieses Tagesplans existiert noch immer und ist nach wie vor eine Notwendigkeit und große Hilfe für Matthias. Bis zum Schuleintritt besuchte uns regelmäßig eine Sehfrühförderin vom Verein Contrast. Als wir merkten, dass sich Matthias immer nur auf eine Sache konzentrieren kann, suchten wir Bilderbücher, auf denen pro Seite nur ein Tier oder ein Gegenstand zu sehen war. Am besten war es mit einen weißem Hintergrund. Wenn in einem Bilderbuch zu viel auf einer Seite abgebildet war, konnte sich Matthias kaum auf etwas konzentrieren. Er konnte auch keinen bestimmten Gegenstand, wie zum Beispiel ein Auto, finden. Mit sechs Jahren kam Matthias in eine Schule für körperbehinderte Kinder, da er auch motorische Einschränkungen hat. Zu diesem Zeitpunkt war uns die Sehbehinderung nicht wirklich bewusst, denn zuhause konnte er sich in den bekannten Räumen frei bewegen und gut zurechtfinden. Die Wohnung haben wir in den ersten Jahren kaum verlassen, da Matthias dann getobt und geschrien hätte. Nach eineinhalb Jahren war der Schuldruck zu groß geworden. Matthias fiel in kleinkindliche Verhaltensmuster zurück und zupfte sich die Haare aus. Nach einigen Monaten wechselte Matthias in das Bundes-Blindeninstitut Wien. Matthias entspannte sich und wurde wieder ruhiger. Weiterhin war es für ihn sehr wichtig seinen klaren Tagesplan zu haben: „Und dann? Und dann?“ Bis ins kleinste Detail musste er den Ablauf am Vormittag wissen. Gemeinsam (Mutter und Pädagogin) wurde anfangs ein Plan ausgearbeitet. Allmählich konnte er sich Stück für Stück von seiner Starrheit lösen und auch „ungeplante“ Situationen gut annehmen. Bestimmte Tagesrituale behielten wir bewusst, denn diese halfen ihm, besonders Stresssituationen gut zu bewältigen. Die Mitschüler nahmen Matthias mit all seinen Besonderheiten gut auf und so ging auch er nach und nach auf diese zu. Immer wieder verblüffte Matthias mit seiner Sehleistung. Einerseits fand er die noch so kleinen und fast unscheinbaren Dinge am Boden, andererseits konnte er viele Bilder nicht erkennen beziehungsweise nicht zuordnen. Die große Erleichterung kam, als die Augenärztin Frau Dr. Gruber ihn testete: Matthias hat CVI! Das Team (Eltern, Augenarzt, Pädagogin) arbeitet sehr eng zusammen, sodass Matthias „Eigenwilligkeiten“ gut angenommen werden können. Matthias kann nur einen Sinneskanal öffnen: entweder sehen oder hören, gleichzeitig ist es ihm nicht möglich. Dies zu berücksichtigen und in den pädagogischen Alltag einzubauen war anfangs eine Herausforderung. Matthias ist sehr „arbeitseifrig“, allerdings lässt er sich bei jedem noch so leisen Geräusch ablenken. Puzzle legen, zuordnen, Bilder erkennen - wenige Minuten kann Matthias konzentriert arbeiten. Lautes Lachen seiner Mitschüler kann für ihn sehr irritierend wirken. Feste, vor allem Fasching oder Weihnachtsmarktbesuche stellen durch die massive Reizüberflutung eine große Belastung für ihn dar. Im Treppenhaus steht Matthias oft und wartet. Er wartet darauf, dass das Stiegenhaus frei ist und er alleine weitergehen kann, denn andere Personen, egal ob Kinder oder Erwachsene, in seine Richtung gehende oder entgegenkommende, würden ihn zu sehr ablenken. Eine große Herausforderung war unsere gemeinsame Schullandwoche: Matthias mit Mama, Klassenlehrerin und Klassenfreunde. Trotz fremder Umgebung, anderer Regeln und Abläufe, nahm Matthias bei allen Aktivitäten teil! Die Sicherheit, die wir ihm geben konnten und seine emotionale Stabilität, die Stütze durch die soziale Gruppe, das gegenseitige Vertrauen, all dies hat diese Woche zu einem unvergesslichen Abenteuer gemacht! Wenn man weiß und erkennt welche Bedürfnisse Matthias hat, wenn man das „Einkanalsystem“ berücksichtigt, wenn man seine Eigenheiten nicht als störend empfindet, dann ist Matthias eine große Bereicherung! 2.8.3 Meine Tochter Flora Reingard Schott Flora kam im März 2000 als Frühchen in der 26. SSW zur Welt. Flora ist 14 Jahre alt und besucht derzeit das Odilien-Institut in Graz. Auf Grund einer Infektion im Gehirn kam es zu Komplikationen kurz nach der Geburt (Hydrocephalus) und damit zu ihrer Mehrfachbehinderung. Flora entwickelte sich sowohl motorisch als auch kognitiv deutlich verzögert, trotz entsprechenden therapeutischen und ärztlichen Maßnahmen. Im Kleinkindalter war ihr Sehvermögen sehr schwierig einzuschätzen, da sie sich verbal noch nicht entsprechend ausdrücken konnte. Erst später konnte die niedrige Sehschärfe festgestellt werden. Ihr CVI wurde erst im CVI-Forschungsprojekt klar erkannt. Dass Flora - im Vergleich zu anderen Kindern ihres Alters - ihre visuellen Erfahrungen individuell verarbeitete, wurde erst im Kindergartenalter deutlicher. So hatte Flora mit klaren einfachen Symbolen (Kreis, Viereck, Dreieck) keine großen Probleme. Bilderbücher mit komplexeren Bildern waren dagegen oft schon eine große Herausforderung, Wimmelbilder völlig uninteressant. Bei den Grundfarben (Gelb, Rot, Blau, Weiß, Schwarz) hatte sie keine allzu großen Probleme, bei Mischfarben war das schon anders. Flora deutete z.B. alles, was für sie rund und gelb war, als Sonne, oder alles, was vier Beine hatte, als Katze. Details auf Bildern, die Normalsichtigen als eindeutige Merkmale zur sicheren Unter-scheidung dienen, kann Flora bis heute oft noch nicht richtig erkennen. Später, in der Volksschulzeit war für Flora das Erlernen der Zahlen und Buchstaben (eindeutige klare Symbole) keine große Herausforderung, im Gegenteil, sie liebte es, mit Buchstabenkarten Wörter und Sätze zu legen. Auf Grund ihrer beeinträchtigten Auge-Hand-Koordination begann sie aber erst in der 3. VS-Klasse einigermaßen leserlich mit der Hand zu schreiben, bis dahin arbeitete sie am PC. Flora schreibt auch heute noch ihre Texte ausschließlich in Großbuchstaben. Druckschrift oder Schulschrift ist für sie schon zu komplex zum Schreiben, bei entsprechender Schriftgröße kann sie diese aber lesen. Zum flüssigen Lesen benötigt Flora prinzipiell eine große Schrift mit klar gegliederten Texten, wenigen Worten in der Zeile und vergrößertem Zeilenabstand. Sonst ermüdet sie schnell und ihre Konzentration lässt deutlich nach. Auf Grund dieser Tatsache stößt man im schulischen Bereich ziemlich schnell auf Hürden. Die Textgröße in Schulbüchern war gerade noch in der 1. VS-Klasse für Flora adäquat, im Laufe ihrer Schullaufbahn wurde das immer mehr zum Problem, da die Texte immer kleiner und weniger gegliedert sind und viel Bildmaterial vom Wesentlichen ablenkt. In den gängigen Schulbüchern sind sehr viele Aufgaben mit Bildern gestaltet oder Arbeitsaufträge sind überhaupt in die Bücher zu schreiben. Eine für Flora meist unmögliche Aufgabenstellung, da selten genug Platz für ihre individuelle Schriftgröße vorhanden ist. Schulbücher und andere Lernunterlagen werden für Flora zwar vergrößert, das Format muss dann aber so groß gewählt werden (A3), dass Flora - wegen ihrer motorischen Einschränkung - durch die Unhandlichkeit dieser riesigen Materialien sehr beeinträchtigt und immer wieder auf fremde Hilfe angewiesen ist. Diese Abhängigkeit und die damit verbundene Unselbstständigkeit stellt für Flora, die ja sehr ehrgeizig ist, eine generelle Problematik dar – vor allem auf sozialer und emotionaler Ebene, da sie sich im Vergleich zu anderen Kindern oft benachteiligt und ausgegrenzt fühlt! Viele individuelle Verhaltensweisen und Reaktionen von Flora wurden erst durch das Forschungsprojekt „CVI“ für uns erklärbar. Zum Beispiel ihr Orientierungssinn, Flora benötigt sehr lange, bis sie sich in unbekanntem Umfeld zurechtfinden kann, eine für sie überschaubare „Infrastruktur“ (kleine Einheiten), erklärende Worte und vor allem Geduld erleichtern ihr allerdings die Bewältigung dieses Problems. Trotzdem ist Flora nicht in der Lage, sich alleine im öffentlichen Raum zurechtzufinden, sie wird vermutlich immer Begleitung nötig haben. Ganz besonders möchte ich hier erwähnen, dass viele Spezialisten, Ärzte (auch Augenärzte), Gutachter, Pädagogen, usw., keine Ahnung von CVI und den damit verbundenen Auswirkungen für die betroffenen Kinder und die betreuenden Personen haben. Vor allem im Schulbereich wurden wir - trotz intensiver integrativer Bemühungen - mit großem Unverständnis, Unwissenheit und enormen bürokratischen Hürden konfrontiert. Nicht Bescheid wissen bezüglich CVI und die damit fehlenden Kompetenzen im pädagogischen Umgang mit Kindern mit dieser Behinderung führt sowohl zu Über-, aber auch zu Unterforderungen. So war es nicht zu verhindern, dass Flora in ihrer Schullaufbahn deswegen zweimal die Schule wechseln musste! Eine traurige Bilanz für unser österreichisches Schulsystem. Auf Grund meiner eigenen negativen Erfahrungen plädiere ich für eine entsprechende Aus- und Weiterbildung für alle Pädagogen, auch Kindergartenpädagogen, um eine möglichst frühe Förderung durch entsprechende Sensibilisierung, Diagnostik und Aufklärung aller Beteiligten zu ermöglichen! Ich wünsche mir auch entsprechend „reduzierte“ Schulbücher für Kinder mit CVI, die von diversen „motivierenden“ grafischen Überangeboten entrümpelt sind. Ich denke, dass auch Kinder ohne Einschränkungen davon profitieren können, viele leiden sowieso an Reizüber-flutung. (ADHS) Ich kann mir hier auch nicht verkneifen, die Sinnhaftigkeit des aktuellen Schulbuches - konzipiert als Arbeitsbuch - in Frage zu stellen und die daraus resultierende Einstellung bei Schülern zum Wert eines Buches? Wozu gibt es Hefte? Meine Einschätzung: Flora scheint generell Erlebtes als emotionalen und akustischen Gesamteindruck im Kopf abzuspeichern, nicht als etwas visuell Erfasstes. Für uns „Normalsehende“ schwer vorstell- und nachvollziehbar, da unsere Gesellschaft hauptsächlich visuell geprägt ist. Kinder mit CVI haben sehr unterschiedliche individuelle Bedürfnisse, die jeweils aus den in Mitleidenschaft gezogenen Hirnfunktionen resultieren. Ein häufiger Wechsel von außerfamiliären Bezugspersonen sollte auf jeden Fall vermieden werden, um diese Kinder erfolgreich im Schulsystem eingliedern zu können. Ein „Shadow“, der genau die Stärken und Schwächen dieser Kinder kennt und auch ihre Entwicklungsschritte „miterlebt“, kann sicher einen wertvollen Beitrag leisten, vor allem als vertraute Bezugsperson und als Bindeglied zwischen familiärem und schulischem Umfeld, speziell während den Übertrittsphasen Kindergarten - Volksschule - weiterführende Schule - Arbeitswelt. Ich freue mich daher sehr über das Interesse des Bundesministeriums zum Thema CVI und hoffe, dass in naher Zukunft für betroffene Kinder ein besser geeignetes schulisches System zur Verfügung steht! 2.8.4 Zuhören ist seine große Stärke Maria Deutsch Unser Sohn Martin (mittlerweile fast 17 Jahre), Frühgeburt 31. Woche, wurde nach drei Monaten Intensivstation mit der Diagnose PVL spastische Tetraplegie aus dem Krankenhaus entlassen. Außer seiner körperlichen Einschränkung (sitzt im Rolli) ist auch sein Sehvermögen sehr eingeschränkt (Sehschärfe und CVI). Im Alltag muss man ihn immer wieder verbal unterstützen: „Bitte schau hin!“, z.B. beim Essen, dass er schaut wo das Essen ist und gezielt den Löffel einsetzt, beim Spielen z.B. „Schau, welche Karte fehlt!“. Dies funktioniert nur über Kommunikation, nicht aus Eigeninitiative. Beim Fernsehen liegt er am Boden und hebt nur ab und zu den Kopf um hinzuschauen (ist mehr Fern-Hören, er schaut DVDs des Öfteren an, um dem Inhalt zu folgen). In der Schule muss man ihn immer wieder motivieren, da die Konzentrationsdauer doch eher gering ist. Beim Rollstuhlfahren fährt er ein bisschen und dann schaut er wieder, wo er hin muss. Beides gleichzeitig zu koordinieren funktioniert nicht. Dadurch ist es für ihn natürlich schwierig sich zu orientieren. Auch wenn wir spazieren gehen, betrachtet er nicht wirklich das Umfeld. Die bewegten Bilder nimmt er wieder nur wahr, wenn wir stehen bleiben. Bei ihm funktioniert das Ineinandergreifen der verschiedenen Sinne leider nicht, entweder "schaut er" oder "tut er". Martin selber sagt, dass er sehr gut zuhören kann und dadurch einiges ausgleicht und sich in Gesellschaft sehr wohl fühlt und durch sein gutes Sprachvermögen ist er auch sozial gut integriert. Aber wir sind sehr froh, dass wir an diesem CVI Projekt teilnehmen konnten. Durch diese Untersuchungen wurden uns seine Wahrnehmung und das Sehen erst bewusst. Danke an das ganze Team! 2.8.5 Das Positive an der Prosopagnosie Alexander Avian Prosopagnosie - eine Diagnose, die für Außenstehende nur schwer zu verstehen ist. Wenn ich mit jemanden über dieses Thema spreche, und ihr/ihm erkläre, was Prosopagnosie ist, erhalte ich oft als Antwort, dass diese Person bereits auch einmal eine andere Person nicht erkannte. Die Tatsache, dass dieses Erlebnis, einmal eine andere Person nicht erkannt zu haben, jeder kennt, macht es einerseits vielen Außenstehenden schwer zu akzeptieren, dass es die Prosopagnosie wirklich gibt, und andererseits liefert es Betroffenen eine Erklärung dafür, dass sie andere nicht erkennen. Dadurch leben auch viele Personen mit Prosopagnosie, ohne zu wissen, dass sie eine Prosopagnosie haben. Ich bin erst im Laufe meines Psychologiestudiums auf das Thema Prosopagnosie gestoßen und bemerkte dadurch, dass meine Gesichtswahrnehmung nicht normal ist. Es fiel mir dann auch nicht schwer, mich an Situationen zurückzuerinnern, in denen ich offensichtlich durch meine Prosopagnosie beeinträchtigt wurde. Eine der frühesten Erinnerungen spielt in meiner Kindheit. Ich ging mit meinem Vater spazieren und lief auf eine Frau zu, die ich für meine Mutter hielt – da ihre Statur und ihre Kleidung der meiner Mutter ähnelten. Wie ich dann bemerkte, handelte es sich nicht um meine Mutter. Ein weiteres markantes Erlebnis war, als ich - bereits als Jugendlicher - Passbilder bei einem Fotografen abholte und die Person auf den Bildern nicht als meine eigene Person identifizierte; ich dachte, dies müsse mein Bruder sein. Da ich immer wieder damit konfrontiert war, dass mich Personen ansprachen, die ich nicht kannte und es mir peinlich war, zugeben zu müssen, dass ich meinen Gesprächspartner nicht erkenne, habe ich versucht im Gespräch herauszufinden, mit wem ich redete, was zum Teil zu Verwechslungen führte und somit wiederum in einer peinlichen Situation resultierte. Mein Gegenüber versuchte ich anhand der Statur, der Sprache, des Dialektes und des Gesprächsinhaltes zu identifizieren bzw. einzuschränken, wer es sein könnte. Ein Bereich, der mir immer Probleme bereitet, sind Filme. Wenn ich einen Film sehe, und wichtige Schauspieler haben ähnliche Frisuren und eine ähnliche Statur, dann kann es sein, dass ich diese Personen nicht unterscheiden kann. Dabei hilft mir dann zumeist meine Frau, die ich dann kurz frage, wer diese Person ist. Generell kann eine informierte Umgebung sehr hilfreich sein. Einerseits, wenn andere wissen, dass ich sie nicht immer erkenne, können sie entsprechend darauf reagieren, ohne verwundert zu sein, und andererseits hilft es, wenn „eingesagt“ wird. Wenn wir zufällig Bekannte treffen, sagt mir meine Frau leise ein, wer gerade näher kommt. Ebenso kann Kindern geholfen werden. Es kann ihnen zuvor gesagt werden, wer sich nähert oder die annähernde Person kann auch mit dem Namen begrüßt werden. Meine Tochter hat ebenso eine Prosopagnosie. Bereits bevor sie in den Kindergarten ging, wussten wir, dass sie eine Störung der Gesichtswahrnehmung hat und sprachen mit ihr darüber. Wir informierten auch die Kindergartenpädagoginnen. Meine Tochter wusste daher von Beginn an, dass sie Hilfsmittel suchen muss, um die anderen Kinder zu erkennen. Zunächst versuchte sie es anhand der Kleidung, was aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht sehr erfolgreich war. Schließlich konzentrierte sie sich auf die Hausschuhe der anderen Kinder, da diese nicht täglich gewechselt werden. Beim Faschingsfest, als alle anderen Kinder Probleme hatten, sofort zu wissen, welches Kind sich unter welcher Verkleidung versteckte, wusste es meine Tochter sofort – da alle auch mit der Verkleidung ihre Hausschuhe trugen. Somit war die Prosopagnosie für sie in dieser Situation ein Vorteil, da sie nicht auf das Gesicht der anderen angewiesen war. Die generelle Regel „Sprich nicht mit Fremden“ oder „Geh nicht mit Fremden mit“ stellt für Kinder mit Prosopagnosie ein Problem dar. Personen mit Prosopagnosie – nicht nur Kinder – sind es gewöhnt, dass sie von Fremden angesprochen werden. Später stellt sich dann heraus, dass diese Fremden bekannte oder sogar befreundete oder verwandte Personen sind. Für Kinder kann in solchen Situationen ein „Code“ hilfreich sein, ein Wort, dass mit dem Kind vereinbart wurde und dass jede/r kennt, die/der das Kind vom Kindergarten/von der Schule abholen darf. Wir haben auch darauf verzichtet den Namen unserer Tochter in ihre Kindergartentasche zu schreiben, da sie annehmen muss, dass sie jede Person kennen sollte, die sie mit Namen anspricht. Stattdessen finden sich nur unsere Handynummern am Namensschild. Das Positive an der Prosopagnosie ist, dass ich fast täglich Fremde treffe, die mich freundlich grüßen! 2.8.6 Wo bin ich? Eva-Maria Michule Ich denke, also bin ich – aber wo genau? Dass mein Orientierungsvermögen nicht das Beste ist, wurde mir schon früh klar. Erstmals als ich mich im Alter von sechs Jahren mit den Worten „Ich gehe schnell zu Papa!“ von meiner Mutter verabschiedete. Mein Vater stand nur einige Meter weiter und zwar neben einer riesigen Hüpfburg, in der mein Bruder bereits herumtobte und in die ich folglich auch wollte. Leider musste ich mir etwa zwei Stunden später ? in dem angrenzenden Wald und von der Dämmerung bedroht ? eingestehen, dass ich es irgendwie geschafft hatte, mich zu verlaufen. Zum Glück fanden mich zwei nette Damen und endlich auch meine Eltern. Heutzutage wundert sich bedauerlicherweise niemand mehr, wenn ich alleine unterwegs bin, weshalb ich mit meiner Orientierungslosigkeit allein bin. Außer ich werde nach dem Weg gefragt, dann müssen auch andere darunter leiden. Ich werde immer noch von dem Gedanken verfolgt, dass ich eines Tages den Mann wiedertreffen könnte, dem ich die Anweisung gab in die Straßenbahn 62 einzusteigen, um nach Hietzing zu kommen. Völlig sicher war ich mir, wo ich doch täglich mit eben dieser Bim zur Arbeit fahre. Man kann nur mutmaßen, wann der Arme herausgefunden hat, dass er am falschen Ende Wiens ist. Seit diesem Vorfall gebe ich natürlich keine „völlig sicheren“ Auskünfte mehr. Stattdessen hole ich fachmännisch mein Handy mit GPS-Funktion aus der Tasche, wenn ich nach dem Weg gefragt werde und verwandle mich augenblicklich zum Navigationsgenie. Mein Handy kommt auch dann zum Einsatz, wenn ich selbst wieder mal nicht weiß, wo ich gelandet bin. Ohne das integrierte Navigationssystem würde ich womöglich immer noch in den (zugegebenermaßen sehr begrenzten) Wäldern meines Heimatdorfes umherirren, nachdem ich den genialen Gedanken hatte, mit meinem Hund eine vermeintliche Abkürzung zu nehmen, die meinen Weg im Endeffekt um eine Stunde verlängerte. Leider ist selbst GPS keine Hilfe, wenn man gar nicht weiß, wo man überhaupt hin will. So fasste ich an einem verhängnisvollen Nachmittag den Entschluss lieber nicht auf eigene Faust quer durch Wien zu fahren, sondern doch besser die „Öffentlichen“ zu nehmen, weshalb ich mein Auto spontan in einer Seitengasse parkte. Leider vergaß ich nicht nur den Namen der Gasse, sondern auch den der angrenzenden U-Bahn-Station. Ein Glück nur, dass Orientierungsvermögen wohl nicht erblich ist. Mit der Hilfe meines Vaters, den man mit einem Sonnenhut in der Wüste aussetzen könnte und einen Tag später beim Grillen der erlegten Beute im hauseigenen Garten wiederfinden würde, konnte ich meinen Weg rekonstruieren. Mit einiger Sucherei war es so möglich, meinen Wagen dann doch noch wiederzufinden ? eine Woche später, versteht sich. Als Beifahrer lebt sich’s allerdings ohnehin sicherer.  Ich werfe meinem Freund zwar regelmäßig vor, er würde mich entführen, weil er mich in unbekannten Gefilden umherkutschiert, aber zumeist stellt sich hinter der nächsten Kurve doch heraus, dass es nur die Nebenstraße zu unserem Haus war. Es interessiert mich nämlich leider auch überhaupt nicht, wo was ist und wie man hinkommt. Sobald ich mich in Bewegung setze, ist alles Mögliche interessant: die Wolke, die aussieht wie ein Pelikan, welche Kekse ich am Nachmittag backen werde, der Beweis zur Überabzählbarkeit der Menge der reellen Zahlen. Falls sie den übrigens noch nicht kennen, suchen Sie nach Cantors zweitem Diagonalargument ? tolle Sache! Aber um wieder zum Thema zu kommen, was mich jedenfalls mit Bestimmtheit nicht interessiert, ist die Route. Nachdem es für mich bewusster Anstrengung bedarf, mir Wege einzuprägen, ist das natürlich ein Nachteil. Aber keine Sorge, mittlerweile habe ich alle Straßen um unser Haus herum mehrmals befahren, um mir einen Überblick zu verschaffen – von beiden Richtungen, denn mit der Fahrtrichtung ändert sich schlagartig das Aussehen aller Häuser und Gärten. Auch Tageszeit und Wetterbedingungen haben leider einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Erkennungsmerkmale, die ich mir systematisch einpräge.  Zu meinem Haus geht’s zuerst vor der Telefonzelle links hinein und dann bei dem leuchtenden Schild rechts in die Gasse, danach kommt das gelbe Gebäude links, mit dem grünen Zaun. Von der anderen Seite ist es schon komplizierter. Meine Freunde sind zum Glück mittlerweile alle im Bilde über mein Gebrechen und nehmen es mit Humor, indem sie mich in jeder Situation mit genauen Fahranweisungen beglücken. So brauche ich nicht in Panik zu geraten, wenn ich meine beste Freundin, die ich seit Jahren kenne, nach Hause bringe und nicht weiß, welches der Häuser denn nun tatsächlich das ihre ist – sie sagt es mir ohnehin. Beim Gedanken daran Chauffeur für nicht Eingeweihte zu spielen, deren Adresse ich kennen sollte, packt mich allerdings das kalte Grauen. Dass die Straße im September völlig anders aussieht als im August, als ich das letzte Mal zu Besuch war, ist für die meisten wohl eher unverständlich. Besonders schlimm wird es, wenn ich dann auch noch ins Haus eingeladen werde, denn hinaus finde ich eigenständig nur mit viel Glück. Wahrscheinlicher ist es, dass ich mich in der Rumpelkammer wiederfinde und dann Erklärungsarbeit leisten muss. Je größer das Gebäude und je gleichförmiger das Interieur, desto schlimmer ist es naturgemäß. Die Universität ist ein Labyrinth für mich, jede Vorlesung findet in einem anderen Saal statt und den muss man erst mal finden. Außerdem wird man gleich als Schwerverbrecher abgestempelt, wenn man erwischt wird, wie man mit Rucksack durch die Bibliothek irrt – den muss man vorher nämlich in einem Spind verstauen. Aber wie erklären, dass man nur falsch abgebogen ist, weil bei der Abzweigung rechts eine geschlossene Glastür war, die früher immer offen stand?  Gut, das Schild mit der Aufschrift „Bibliothek“ hätte diesen Widrigkeiten zum Trotz als Anhaltspunkt dienen können, aber wenn man eben gerade mit Wichtigerem beschäftigt ist …  So bleibt mir nur die Hoffnung, dass zur rechten Zeit am rechten Ort ein netter Mitmensch mir zuruft: „Quo vadis, Eva?“ und mich damit wieder auf den rechten Pfad bringt. 3 NEUROPSYCHOLOGIE 3.1 Das sehauffällige Kind aus (neuro-)psychologischer Sicht Bei Erwachsenen, die ein Gehirntrauma erlitten haben, können unterschiedliche visuelle Wahrnehmungsstörungen auftreten, die Agnosie (etwas nicht können) und Neglekt (ein Nicht-bewusstsein von Teilen des eigenen Körpers und der Umgebung) genannt werden. In der Entwicklung von Kindern mit CVI sind solche ausgeprägten und abgegrenzten visuellen Wahrnehmungsstörungen eher die Ausnahme. Die CVI-Problematik ist angeboren, während der Geburt oder im frühesten Kindesalter entstanden. Das kindliche Gehirn befindet sich in der Entwicklung und hat noch viele Kompensationsmöglichkeiten. Kennzeichnend für CVI scheinen einerseits ein verzögerter Beginn des Sehens und andererseits eine verzögerte Entwicklung der verschiedenen Teilfunktionen des Sehens zu sein. Manche Kinder können bei guter Förderung bis weit ins Grundschulalter hinein, sogar (sub-) normale visuelle Werte erreichen. Niederländische Kolleginnen haben untersucht und beschrieben, dass bei Kindern mit CVI ein Unterschied zwischen den Testergebnissen von Einzeloptotypen und Reihensehtests weitaus länger feststellbar ist, als bei Kindern mit normaler Sehentwicklung. Dies ist bei Kindern bis zum 6. Lebensjahr noch festzustellen (Kaufmann 2012, S. 96, S. 274ff). Bei vielen Kindern mit CVI gibt es diese Unterschiede oft viel länger. Die Testergebnisse der Einzel- und Reihenwahrnehmung zeigen, dass ein Bereich der visuellen Wahrnehmung nicht altersgemäß entwickelt ist. Diese Kinder brauchen oft klar strukturierte Abbildungen und/oder vergrößerte Lesetexte. Es ist möglich, dass sie am Anfang keine Gesichter erkennen und es später aber doch erlernen können. Es wird ein Zusammenhang zwischen der ungleichen Wahrnehmung von Einzel- und Reihenoptotypen (Fachleute nennen dies Crowding) und der Entwicklung von Aufmerksamkeitsfunktionen vermutet, was derzeit noch genauer untersucht und beleuchtet werden muss. 3.1.1 Die Aufmerksamkeitsfunktion (ICF* b140) Die Aufmerksamkeit ist eine sehr komplexe Funktion mit großer Auswirkung auf das Sehen. Ohne Aufmerksamkeit kann ein Kind nicht schauen. Diese Funktion besteht aus mehreren Teilbereichen, die sich in den ersten Lebensjahren entwickeln müssen. Für den Beginn der Entwicklung des Sehens ist die visuelle selektive Aufmerksamkeit wichtig: Wie nah dürfen visuelle Reize beieinander sein und wie viele dürfen es sein, um noch wahrgenommen zu werden? Bei Cerebralparese und bei verschiedenen Syndromen ist dieser Teil oft gestört und dies führt zu einer verzögerten visuellen Entwicklung. Kinder mit Anlagestörungen oder Kinder, die bei der Geburt Sauerstoffmangel (Asphyxie) erlitten haben, schauen nach der Geburt wenig oder gar nicht. Dies scheint unter anderem mit ihrer geschädigten visuellen selektiven Aufmerksamkeitsfunktion zusammenzuhängen. Bei der Förderung im Dunkelraum wird durch intensive Lichtreize gezeigt, wo hingeschaut werden muss, um so Sehreaktionen anzubahnen. Das Kind lernt seinen Blick auf Muster, Gesichter und Objekte zu richten. Mit zusätzlicher Beleuchtung und Kontraststeigerung kann das auch in die alltägliche Umgebung übertragen werden. So kann das Richten von Aufmerksamkeit im Rahmen der vorhandenen Sehschärfe weiter entwickelt werden. Gesichtsfeldproblematik und Aufmerksamkeitsfeldproblematik sind bei jungen Kindern nicht so einfach voneinander zu unterscheiden. Kinder beginnen bereits sehr früh Gesichtsfeld-ausfälle mit Kopfbewegungen zu kompensieren. Kinder mit Aufmerksamkeitsfeldverlust oder Neglekt hingegen haben kein Bewusstsein dafür, dass ihnen im Sehbereich etwas fehlt und kompensieren dies, wenn es ihnen bewusst beigebracht wird, ab dem Kindergartenalter oder erst viel später. Viele Kinder zeigen auch Probleme beim Verlagern des Blickes oder beim abwechselnden Richten ihrer visuellen Aufmerksamkeit: Zum Beispiel zwischen Details und dem Ganzen auf einem Bild, in einer Situation oder zwischen dem Buch/Computer und der Tafel. Das Richten und das Durchhalten der Aufmerksamkeit entwickeln sich erst später und kann ab dem Kindergartenalter gut beobachtet werden. Das Kind lernt einen Plan zu erstellen und ihn dann auszuführen. Vor allem bei Kindern mit Asphyxie kommt es oft beim Erlernen vom planmäßigen Richten der Aufmerksamkeit zu Problemen z.B. bei der Zeilenverfolgung beim Lesen. Kinder, die auch motorische Beeinträchtigungen haben, können die Blickbewegungen (und Kopfbewegungen) oft nicht so genau steuern, wie es für das Lesen und Schreiben nötig ist. Durch Computeranpassungen kann dies ermöglicht werden. Die Fähigkeit die Aufmerksamkeit geplant auf etwas zu richten (exekutive Funktionen) entwickelt sich im Laufe des Schulalters. CVI hängt vor allem mit schwacher visueller selektiver Aufmerksamkeit und dem Richten der Aufmerksamkeit zusammen. Vielen Kindern hilft es, wenn sie bei Aufgaben eine klare Anweisung zum Sehen bekommen und so Strategien für ihre Schulaufgaben erlernen. Störungen in der Aufmerksamkeit betreffen manchmal nicht nur die visuellen, sondern auch die übrigen sensorischen Funktionen. Aufmerksamkeitsstörungen können Teil eines allgemein fehlenden Planes im Handeln (man denke auch an ADHS, ADS oder Dysexekutive Syndrome) sein. Diese allgemeinen Störungen in der Aufmerksamkeitsfunktion werden nicht zu CVI gerechnet. 3.1.2 Visuelles Gedächtnis (ICF b144) Arbeits- und Langzeitgedächtnis sind wichtig, um wahrgenommene und erlernte Dinge zu speichern. Neben dem visuellen Gedächtnis ist auch das auditive Gedächtnis notwendig, um visuell unterschiedliche Dinge, z.B. Tiere oder Früchte, richtig zu benennen. Die Fähigkeit, die räumliche Umgebung aus dem alltäglichen Leben (eigenes Zimmer, Schulklasse oder Straße) zu speichern, muss untersucht werden. Genauso wichtig sind das Behalten von visuellen Sequenzen, die Reihenfolgen und der Zeitverlauf in der Wahrnehmung. Es besteht ein wesentlicher Zusammenhang zwischen Gedächtnisproblemen und Lese- und Lernstörungen. Vor allem das auditive Arbeitsgedächtnis und die rasche Verarbeitung von auditiven (Klang-)Sequenzen und die phonologische Verarbeitung sind entscheidend, ob Lesenlernen möglich ist. 3.1.3 Visuelle Wahrnehmung oder visuelle Perzeption und räumlich visuelle Wahrnehmung (ICF 1561 und 1565) Visuelle Perzeption wird als Schwerpunkt in der CVI-Problematik gesehen. * Gesichtswahrnehmung Bei vielen jungen Kindern scheint die Gesichtswahrnehmung durch zu niedrige Sehschärfe, schlechte Kontrastwahrnehmung und/oder selektive Aufmerksamkeitsprobleme behindert zu werden. Auf Grund von Crowding (eine nicht altersgemäße Unterscheidung zwischen Einzel- und Reihenoptotypen) liegen Gesichtsmerkmale wie Augen, Nase und Mund für sehr junge Kinder und Kinder mit CVI manchmal zu nah aneinander, um erkannt zu werden. Vermutlich sind sensorische Integrationsverarbeitungsprobleme und/oder die Aufmerksam-keitsentwicklung ? also die allgemeine Reizverarbeitung ? die Problematik, die dahinterliegt. Dies bessert sich mit der Zeit (irgendwann im Kleinkindalter wird es dann doch möglich). Eine Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) ist erst bei älteren Kindern feststellbar. Es muss zwischen angeborener ? meist vererbter Form ? und der durch eine Hirnschädigung erworbenen Form unterschieden werden. Gesichtserkennungsprobleme sind vor allem bei periventrikulärer Leukomalazie (PVL), die bei frühgeborenen Kindern auftreten kann, und bei Hydrozephalus bekannt. Das Interpretieren von Gesichtsausdrücken ist auch bei Kindern mit Störungen aus dem Autismus-Spektrum problematisch. * Form-Wahrnehmung Je kleiner das Gesichtsfeld, je niedriger die Sehschärfe und das Kontrastsehvermögen sind, desto mehr Zeit braucht ein Kind, um visuelle Erfahrungen zu machen. Es sind die gespeicherten inneren Bilder, die wiedererkannt werden. Das Erwerben dieser inneren Datenbank braucht Zeit und muss mit der Sprachentwicklung verknüpft werden. Neben eines Aufnahmeproblems durch sensorische Beeinträchtigungen wie Sehschärfe oder Gesichtsfeld, kann es sich aber auch um ein visuelles oder auditives Speicherungsproblem handeln oder um eine Kombination dieser Problematiken. Viele Kinder erkennen Formen meist nur so, wie sie diese erfahren, angelernt haben oder wie sie am öftesten abgebildet sind. So wird beispielsweise ein Tier oder Verkehrsmittel oft von der Seite dargestellt. Werden solche Objekte oder Formen von vorne oder von einem anderen Blickwinkel dargeboten, dann können diese nicht erkannt werden. Diese Objektkonstanz ist die Basis für räumliche Wahrnehmung in Zusammenhang mit der visuellen motorischen Integration und dem Gedächtnis von Situationen und Orientierungspunkten. Andere Kinder entwickeln zwar Formkonstanz, können aber visuelle Komplexität nicht gut verarbeiten. Die Menge von visuellen Reizen ist zu viel, die Figur-Hintergrund-Wiedergabe zu komplex oder eine Situation zu lebhaft, um gut visuell interpretiert werden zu können. Einfache Formen wie Kreis und Dreieck werden erkannt, Quadrat und Rechteck scheinen bereits zu viele visuelle Ähnlichkeiten zu haben, um differenziert zu werden. Lernstörungen können eine Folge von solch einer Problematik sein. Diese Formerkennungsprobleme können separat, aber auch gemeinsam vorkommen. Wenn vor allem die Komplexität, die Menge an visuellen Ähnlichkeiten nicht gleichzeitig interpretiert werden kann, wird von Simultanagnosie gesprochen. Abb. 36: Komplexe Formerkennung - Figur-Hintergrund Aufgabe aus der FEW/DTVP-2 * Räumlich visuelle Wahrnehmung Unter räumlicher Orientierung versteht man, dass man weiß, wo man ist und wie man von hier nach dort kommt: man geht von A nach B mit einem Plan. Das klingt so einfach, aber jeder weiß, wie kompliziert es sein kann. - Standort und Bestimmungsort müssen bekannt und gespeichert sein (visuelle Erfahrung und Gedächtnis) - Orientierungspunkte des Weges müssen erkannt (visuelle Erkennung) und die Reihenfolge im Gedächtnis behalten werden (sequentielles Gedächtnis) - Umgebung und Orientierungspunkte müssen nicht nur richtig gespeichert, sondern auch von einer anderen Seite oder Richtung erkannt werden (Formkonstanz) - Gegenstände müssen auch in einer lebhaften Umgebung oder in einem unaufgeräumten Zimmer erkannt und gefunden werden (visuelle Komplexität, Figur-Hintergrund-Wahrnehmung und selektive Aufmerksamkeit) - die Bewegungsrichtung muss bekannt sein, erkannt und ausgeführt werden können (Richtungswahrnehmung, visuell-motorische Integration und Körperbewusstsein) - Gleichgewicht und Motorik müssen vorhanden sein - die Aufmerksamkeit muss auf das Wahrnehmungsfeld gerichtet und verteilt werden können - ein Plan von A nach B muss erstellt und durchgehalten werden können (exekutive Funktionen) Bedenkt man, wie viele Teilfunktionen zur räumlichen Orientierung nötig sind, dann ist es erstaunlich, wie viele Menschen sich gut orientieren können! Wenn Orientierung nicht gelingt, muss man herausfinden, welche Teilprobleme die Störung verursachen. In diesem Fall müssen die Schwächen erkannt, möglicherweise trainiert oder sonst ersetzt werden und passende Strategien eingeführt werden. Zum Beispiel kann Richtungswahrnehmung trainiert werden, genauso wie das Planen im Richten der Aufmerksamkeit. Bei Gedächtnisproblemen denkt man eher an Hilfsmittel wie an ein Handy oder das Verwenden eines Reimes zur Orientierung (Mnemotechnik) * Visuell motorische Integration (ICF b760) Babys folgen mit den Augen der Bewegung ihrer Eltern. Junge Kinder versuchen alles, was ihre Aufmerksamkeit erregt, zu erreichen und anzufassen. Im Alter von ungefähr einem Jahr kann das Kind schon Seiten eines Buches umblättern, Ringe zu Türmen stapeln und einfache Puzzles legen. In welchem Maß entwickelt sich die visuelle und räumlich-visuelle Wahrnehmung während das Kind sich selbst bewegt und/oder die Menschen und Dinge in der Umgebung sich bewegen? Viele Kinder können Menschen und Gegenstände, die sich langsam bewegen, bei wenig Umgebungsreizen gut beobachten. Wird entweder das eigene Bewegungstempo erhöht und/oder das der Umgebung, dann nimmt die Reizmenge zu und somit gelingt die visuelle Wahrnehmung nicht mehr oder es fehlen Teilinformationen. Lernbedarf besteht im Beschleunigen des Bewegungstempos. Dieses hängt von der sensorischen Informationsverarbeitung ab, in welchem Maß Sinnesinformationen zur gleichen Zeit verarbeitet werden können: Auge-Hand-Koordination, Auge-Fuß-Koordination, aber auch visuell-auditive Integration (anschauen und reden) sind wichtig. Kann das Kind zur gleichen Zeit schauen und handeln? 3.2 Die neuropsychologische Untersuchung Sobald augenärztliche und orthoptische Befunde bekannt sind und eine Behandlung schon stattgefunden hat, können Untersuchungen zur weiteren Abklärung der visuellen Informationsverarbeitung durchgeführt werden. * Bedingungen für eine neuropsychologische Untersuchung - Die Untersuchungsmaterialen sind passend für das gemessene Sehvermögen, die Untersuchung erfolgt mit den erforderlichen Hilfsmitteln wie Brille, Lupe oder Bildschirm. - Die Untersuchungsbedingungen (Licht, Sitzhaltung, Art der Anbietung) sollen so sein, wie es für das Kind notwendig ist. - Bei Tests, die in einer bestimmten Zeit erledigt werden müssen, wird beurteilt, ob das Kind mit der vorgeschriebenen Zeit auskommt oder ob es für die geforderten Leistungen eine Zeitverlängerung benötigt. Die international verwendeten Richtlinien sind für Kinder mit Sehbehinderung die 1½-fache und für Kinder mit Blindheit die doppelte Zeit. *Allgemeine Entwicklungsebene - Zuerst wird die allgemeine Entwicklungsebene mit einem Entwicklungsfragebogen, Skalen- oder Intelligenztest festgestellt. Die Kommunikationsebene und die verbalen Werte sind dabei von großer Bedeutung. Was versteht das Kind schon? - Tests für sehr junge Kinder wie Bayley Scales oder nonverbale Tests sind nicht immer für Sehbehinderte geeignet, da die Aufgaben stark von der visuellen Funktion und der Bewegungsfunktion abhängen. Einen guten Anhaltspunkt geben der Test WPPSI III (2½ bis 8 Jahre) und die Mullen Scales of Early Learning. Bei älteren Kindern wird HAWIK IV verwendet. Vor allem der Sprachindexwert wird als Anhaltspunkt genommen. - Mit dem Movement ABC wird die Bewegungsfunktion eingeschätzt oder es gibt schon bekannte Werte durch physio- oder ergotherapeutische Befunde. - Die visuelle Informationsverarbeitung wird mit diesen Daten - Entwicklungsebene und Bewegungsfunktion - verglichen. Ab der Entwicklungsebene von vier Jahren ist dies mit normierten Tests möglich. Jüngere Kinder werden in ihrem Spiel beobachtet, um festzustellen, wie das Kind unter verschiedenen Bedingungen reagiert (wann und wie schaut es, wann kann es etwas erkennen). 3.2.1 Die Aufmerksamkeitsfunktion (ICF b140) Bei allen Tests wird beobachtet, ob die Aufmerksamkeit auf das ganze verfügbare Gesichtsfeld gerichtet wird. Gesichtsfeld und Aufmerksamkeitsfeld sind zwei unterschiedliche Bereiche, die erst bei etwas älteren Kindern vollständig untersucht und unabhängig voneinander beurteilt werden können. Normierte Tests sind ab dem Alter von vier Jahren möglich (Nepsy I, Tea-Ch K und Tea-Ch). Bis dahin wird mit verschiedenen visuellen Suchaufgaben beobachtet, wie sich die Aufmerksam-keitssubfunktionen entwickeln. Abb. 37: Nepsy I, Subtest “visual attention”: Das Kind, das diesen Test durchführte, hat einen Aufmerksamkeits-feldverlust im Quadrant links oben Abb. 38: Tea-Ch, Subtest Raumschiffe: Das Mädchen, das diese Aufgabe bearbeitet hat, hat einen Aufmerksam-keitsfeldverlust im Feld äußerst links. Die blau markierten Raumschiffpaare wurden nicht wahrgenommen. Es hat auch Probleme in der Mobilität und beim Radfahren. 3.2.2 Visuelle Wahrnehmung oder visuelle Perzeption und räumlich visuelle Wahrnehmung (ICF 1561 und 1565) * Gesichtswahrnehmung Junge Kinder: Gesichter-Lotto sortieren Normierte Test mit NEPSY II ab der Entwicklungsebene von 5 Jahren. * Wahrnehmung von Form und Größe Ab der Entwicklungsebene von 4 bis 5 Jahren verwendet man häufig: FEW2/DTVP2 und NEPSY I & NEPSY II * Räumlich visuelle Wahrnehmung Ab der Entwicklungsebene von 4 bis 5 Jahren verwendet man häufig: FEW2/DTVP2 und NEPSY I & NEPSY II * Visuelles Gedächtnis (ICF b144) Ab der Entwicklungsebene von 4 bis 5 Jahren verwendet man häufig: NEPSY II (ab dem 5. Lj.) und TVPS (ab 4 Jahren) für visuell- und räumliches Gedächtnis. Für das auditive Gedächtnis wird VLMT häufig verwendet. * Visuell-motorische Integration (ICF b760) Visuell-motorische Integration wird meist mit einem Test zum Zeichnen oder Nachzeichnen geprüft, wobei auch die motorische Planung gut zu beobachten ist. Häufig verwendet werden FEW2/DTVP2 (ab dem 4. Lj.) und VMI Beery (ab dem 3. Lj.). Abb. 39: Test VMI Beery Figuren: Dieser Bub hat beim Nachzeichnen der VMI Beery Figuren (überlagernde Kreise, Kreise in einer bestimmten Anordnung) klare motorische Planungsprobleme. 3.3 CVI feststellen: Ein Diskrepanz-Modell Zur Feststellung von CVI wird folgendes Entscheidungsmodell empfohlen: Dik hat das „discrepancy working model“ für CVI bei der Child Vision Research Society Conference 2011 in den Niederlanden präsentiert (www.cvrsoc.org). In diesem Modell wird aufgezeigt, in welcher Form sich CVI von augenmedizinisch feststellbaren Sehschädigungen abhebt, in Deutschland wird dies bereits eingesetzt. Dieses Entscheidungs- oder Diskrepanzmodell ist in fünf Schritten aufgebaut. Die erwähnten Zahlen sind ICF-Nummern. Die Abklärung sollte im interdisziplinären Team erfolgen: Eltern, pädagogische, fachärztliche, (neuro-)psychologische und therapeutische Berufsgruppen. Schritt 1: Augenärztliche/orthoptische Untersuchung und Diagnose b210 Funktionen des Sehens: Sensorische Funktionen, Sehschärfe, Gesichtsfeld, Qualität des Sehvermögens, Licht- und Farbwahrnehmung, Sehschärfe bei Weit- und Nahsicht, einäugiges und beidäugiges Sehen b215 Funktionen von Strukturen, die in Verbindung mit dem Auge stehen: Bewegungsaspekte und Motilität Teamfrage: Können Aktivitäts- und Teilhabeprobleme durch den Entwicklungsstand und die augen-ärztlichen/orthoptischen Daten erklärt werden? - Wenn “Ja”: Einsatz der Methoden aus der Sehbehinderten-Didaktik - Wenn “Nein”: Schritt 2 Schritt 2: Neuropsychologische Untersuchungen und Testungen Geeignetes Testmaterial unter Einbeziehung aller verfügbaren Diagnosen wird heran-gezogen, um Informationen über die Struktur des Gehirns zu bekommen (siehe Neuro-psychologie). Schritt 3: Vergleichen der Ergebnisse folgender Bereiche: siehe Tabelle Schritt 4: Bewerten jedes visuellen Problems: leicht, mäßig, erheblich oder voll Schritt 5: Hilfe ist angezeigt bei einem vollen oder erheblichen Problem, ebenso bei einer Anzahl von mäßigen oder von leichten Problematiken - unter Einbeziehung von anderen möglichen Diagnosen. Fazit: Zur Umsetzung dieser Ergebnisse sind schriftliche Diagnostikberichte mit Beschreibung aller visuellen Subfunktionen erforderlich, damit das Kind bestmöglich im Netzwerk aller pädagogisch-therapeutischen Berufsgruppen betreut werden kann. Tests: FEW-2 Frostig Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung-2, Verlag Testzentrale. DTVP-2 Developmental Test of Visual perception-2, Verlag Pro-Ed. NEPSY I & II Developmental neuropsychological assessment. Verlag Pearson. Teach- K Test of Everyday Attention for Children (TEA-Ch-K) 4-6, Verlag Pearson. Tea-Ch Test of every attention for children 6-16, Verlag Pearson. TVPS Test of Visual Perceptual Skills (Revised), Ann Arbor Publishers. VMI. Beery Buktenica Developmental Test of Visual Motor Integration, 6th Edition (Beery VMI). Verlag Pearson. VLMT Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest. Verlag Beltz Test GMBH. ICF „Die ICF dient fach- und länderübergreifend als einheitliche und standardisierte Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen. Mit der ICF können die bio-psycho-sozialen Aspekte von Krankheitsfolgen unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren systematisch erfasst werden.“ http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/ vom 15.11.2014 Erklärungen zu Komponenten, Kapitel, Gruppen und Kategorien finden Sie unter http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/struktur.html 4 AUGENHEILKUNDE 4.1 Das sehauffällige Kind aus augenärztlicher/orthoptischer Sicht Lernstörungen können vielfältige Ursachen haben. Die Entwicklung des Sehens ist bei Schulbeginn noch nicht abgeschlossen. Diskrete Fehler im optischen System und in der cerebralen Verarbeitung fallen während der Kindergartenzeit nicht auf, machen aber Probleme im Schulalltag. Konzentration und visuelle Aufmerksamkeit werden täglich über mehrere Stunden verlangt. Für das Kind ist sein Sehen „normal“. Es wird nicht auf die Idee kommen, dass eine Brille das Sehen verbessert und die Augen entspannen könnte. Auch kann es sich nicht vorstellen, dass andere Kinder und Erwachsene anders, besser sehen. Erkrankungen oder Fehlbildungen, sofern sie mit freiem Auge nicht erkennbar sind, fallen beim Kleinkind erst auf, wenn die Sehschärfe 10% oder weniger beträgt. Spielsachen und Bilderbücher sind groß, bunt und in der Regel kontrastreich. Schielen und ungleiche Fehlsichtigkeiten mit Schwachsichtigkeit eines Auges stören die grobmotorische Entwicklung in der Regel wenig. Ungeschicklichkeit, Tollpatschigkeit werden lange nicht auf schlechtes Sehen zurückgeführt. Im Kindergartenalter werden die Spielsachen kleiner, längere visuelle Aufmerksamkeit wird gefordert, Vorbereitungen für die Schule werden getroffen. Wenn die Kinder bis zu dieser Zeit noch nicht augenärztlich untersucht wurden (versäumte augenärztliche Mutter-Kind-Pass-Untersuchung oder fehlende Screening-Untersuchung im Kindergartenalter), kann es sein, dass erst Schulprobleme die verminderte Sehschärfe oder eine behandlungsbedürftige Augenerkrankung aufdecken. Doch es gibt auch Augenerkrankungen, die nach unauffälliger frühkindlicher Entwicklung der visuellen Funktionen erst im späteren Kindesalter manifest werden. Es ist eine gründliche augenärztliche Untersuchung aller Augenabschnitte erforderlich, um organische Veränderungen zu erkennen. Okuläre = augenbedingte Lesestörungen, die durch nicht oder nicht voll korrigierte Sehfehler, durch latentes Schielen oder Naheinstellungsschwierigkeiten bedingt sind, können ähnliche Auffälligkeiten wie Teilleistungsschwächen zeigen. Während die Beschwerden bei Teilleistungsschwächen inkonstant sind, treten sie bei den okulären Lesestörungen bei längerer visueller Belastung (15 - 30 Minuten) bzw. bei Fokuswechsel (Abschreiben von der Tafel) verstärkt auf. Nicht jede kleine Fehlsichtigkeit erfordert eine Brille. Nach dem Motto: „Nobody is perfect“ kompensieren wir diskrete Fehler im optischen System. Übersteigen die Fehlsichtigkeiten oder Naheinstellungsschwächen die Kompensationsfähigkeit oder dauert die Belastung zu lange an, treten Probleme im Schulalltag auf. Immer wieder gibt es Kinder, die weniger durch ihr schlechtes Sehen, als vielmehr durch Konzentrations-, Aufmerksamkeitsschwächen und Verhaltensbesonderheiten auffällig werden. Voraussetzungen für das Erlernen des Lesens und Schreibens sind eine stabile Fixation, gutes Sehen in Ferne und Nähe, gutes Kontrastsehen, gute Augenbeweglichkeit und eine mühelose sensorische Fusion (Verschmelzung) der Bilder beider Augen. Das visuelle Erkennen von Geschriebenem, die semantische Bewusstwerdung und die Transformation zur Aussprache bzw. motorisch zu Schrift erfordert eine neurologische Höchstleistung in vielen Teilen unseres Gehirns. 4.2 Augenärztliche und orthoptische Untersuchungen Die augenärztliche und orthoptische Untersuchung soll so früh wie möglich okuläre Ursachen von Lese- und Lernstörungen aufdecken, damit diese gezielt behandelt werden. Das Kind soll seine Energie nicht zur Kompensation von therapierbaren Fehlsichtigkeiten verwenden, sondern soll sich voll und ganz auf die pädagogische Förderung seiner Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen konzentrieren können. Seh- und mehrfachbehinderte Kinder sind in den ersten Lebensjahren sehr schwierig zu untersuchen. Viel Erfahrung und ein empathischer Zugang sind nötig. Subjektive Angaben zum Wahrgenommenen können vom Kind meist nicht gemacht werden, die Beurteilung beruht auf objektiven Zeichen und dem Beobachten des visuellen Verhaltens. Oft sind es diagnostische Puzzle-Teilchen, die durch Beobachtung über Jahre eine Vorstellung von cerebralen visuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen ergeben. 4.2.1 Anamnese = Vorgeschichte Schwangerschafts- und Geburtsverlauf, Schilderung der Seh- und Allgemeinentwicklung, Entwicklungsverzögerungen, Krankheiten, Fehlbildungen, Probleme in der Schule Liegen bei einem Kind Störungen in der Motorik/Bewegungsfunktion und in der visuellen und/oder auditiven cerebralen Informationsverarbeitung vor, ergibt die Anamnese zumeist schon Hinweise darauf aus der frühkindlichen Entwicklung: - schlechte APGAR-Werte - APGAR = Punkteschema, mit dem der klinische Zustand von Neugeborenen beurteilt wird (Herzfrequenz, Atmung, Reflexe, Muskeltonus, Hautfarbe) - späte Auge-Hand-Koordination - verzögerte grob- und feinmotorische Fertigkeiten - fehlende Krabbelphase - Entwicklungsrückstände im Spiel- und Sozialverhalten 4.2.2 Fehlsichtigkeiten = Refraktionsfehler Geringe Sehfehler sind die Regel und werden vom Gehirn kompensiert. Bei höherer Weitsichtigkeit = Hypermetropie, Kurzsichtigkeit = Myopie, Hornhautverkrümmung = Astigmatismus oder länger dauernder Naharbeit müssen sie mit Brille korrigiert werden. Ob ein Sehfehler vorliegt, wird beim Kind mittels Skiaskopie ermittelt. Abb. 40: Die Augenärztin untersucht einen Buben mit dem Skiaskop. Die Augenärztin leuchtet mit dem Skiaskop auf die Pupille des Kindes und bewegt das Skiaskop hin und her. Je nach Mit- oder Gegenbewegung des von der Netzhaut reflektierten Lichtes und dem Vorhalten von Gläsern wird die Dioptrienstärke bestimmt. Dafür sind Augentropfen erforderlich. Sie erweitern die Pupille und schalten die Akkommodationsfähigkeit (Autofokus) aus. 4.2.3 Sehschärfe = Visus Der Visus gibt das Auflösungsvermögen (d. h. zwei Punkte können getrennt wahrgenommen werden) der Netzhaut und der Funktion des Sehnerven wider. Die Sehschärfe für die Ferne wird meist mit Buchstaben oder Zahlen geprüft. Besser für Kinder sind Sehzeichen (Optotypen), bei denen nur eine Richtungsangabe notwendig ist: - in welche Richtung zeigen die Striche (E-Haken) - wo ist das Loch im Ring (Landolt-Ring) - oder sie wird mit Symbolen erhoben (Lea Hyvärinen Symbole) Die Sehschärfe muss bei gesunden Kindern mit oder ohne Brille mühelos mindestens 80 % sein. Der Nahvisus hängt nicht nur von der Qualität der Netzhautmitte und des Sehnerven ab, sondern auch von der Akkommodation = Fähigkeit der Linse zur Abkugelung für scharfes Sehen in der Nähe = Zoomfunktion. Gutes Sehen und rasche Scharfstellung in Ferne und Nähe sind vor allem beim Abschreiben von der Tafel notwendig. * Crowding oder Trennschwierigkeiten, Einzel-/Reihensehschärfe Kinder können einzelne Sehzeichen besser als eng benachbarte Sehzeichen gleicher Größe erkennen. Sind die Optotypen sehr nahe angeordnet (Wörter, Lesetexte), so kommt es zu einer Kontureninteraktion mit schlechterem Auflösungsvermögen. Diese Kontureninteraktion ist neurogen bedingt, tritt aber verstärkt im Rahmen einer visuellen Verarbeitungsstörung, bei Schielen und bei Refraktionsfehler auf. Die Überlappung der Konturen stört nicht nur beim Lesen kleingeschriebener Texte und beim Betrachten von Wimmelbildern, sondern auch in großen Menschenmengen oder vor Kaufhausregalen. Erleichtert wird die Wahrnehmung durch Vergrößerung der Zeichen/Buchstaben und durch Vergrößerung des Abstandes zwischen den Zeichen. Erst mit ca. zehn Jahren erreichen die Kinder die Reihensehschärfe der Erwachsenen, wobei diese gleich oder eine Zeile schlechter als die Einzelsehschärfe ist. * Visusäquivalent, visuelles Verhalten Sehzeichen, die zur Visuserhebung bei normal entwickelten Kindern verwendet werden, erfordern entweder eine Raum-/Richtungswahrnehmung: E-Haken, Landolt-Ring oder eine Figurwahrnehmung: Lea Hyvärinen Symbole. Bei cerebraler visueller Informationsverarbeitungsstörung können diese Funktionen beeinträchtigt sein, sodass ein Visusäquivalent erhoben werden muss. Die Einschätzung des Sehvermögens beruht auf Preferential Looking (PL)-Methoden (= bevorzugtes Hinsehen): - Streifenmuster: Dem Kind wird eine gestreifte (verschiedene Streifenbreiten) und eine neutrale Fläche gezeigt. Die Blick- oder Kopfzuwendung zum Streifenmuster lässt auf die Erkennung schließen. Diese Gittersehschärfe prüft nicht nur die Netzhautmitte, sondern ein weit größeres Netzhautareal. - Objekttest: Dem Kind werden kleine Objekte (z. B. Holzkugel in einer Hand, Spielzeug am Boden) angeboten. Blick oder Griff zum Objekt beruhen auch auf dem Preferential Looking Prinzip. Damit wird nicht nur die Sehschärfe, sondern auch Farb- und Kontrastwahrnehmung geprüft. Abb. 41: LEA-Paddels: Der gestreifte Paddel wird hinter dem grauen Paddel „versteckt“ und dann nach rechts und links bewegt: Abb. 42a, 42b: Objekttest mit einer roten Kugel. Abb. 42a: Eine kleine Kugel wird in einer der beiden geschlossenen Hände „versteckt“ und dann geöffnet, die Blickzuwendung des Kindes wird beobachtet. Abb. 42b: Das Kind krabbelt zur Kugel am Boden sobald es sie entdeckt hat. Sind mit PL-Methoden keine „Antworten“ zu erzielen, wird das visuelle Verhalten beobachtet bzw. von den Eltern erfragt: - fixiert das Kind Personen oder Gegenstände - schaut es im Raum herum - beobachtet es Gesichter und nimmt Blickkontakt auf - greift das Kind nach Spielsachen, betrachtet es diese aus verschiedenen Richtungen - steckt es diese auch nach der oralen Phase sofort in den Mund - spielt es mit anderen Kindern 4.2.4 Gesichtsfeld = (Konfrontations-) Perimetrie Die Gesichtsfelduntersuchung prüft die Empfindlichkeit der peripheren Netzhautareale. Während das Kind ein Objekt oder das Gesicht vor ihm fixiert, werden andere Gegenstände oder Licht von der Seite, von oben und unten nach zentral bewegt. Konfrontationsperimetrie: Die Blick- oder Kopfwendung zum seitlichen Objekt lässt die periphere Wahrnehmung erkennen. Abb. 43: Gesichtsfelduntersuchung Alexander schaut auf das kleine Spielzeug vor ihm. Eine zweite Untersuchungsperson bringt von der rechten Seite ein weiteres Spielzeugtier in das Gesichtsfeld. Sobald es wahrgenommen wird, blickt das Kind zur Seite. Die normalen Gesichtsfeldgrenzen für jedes Auge reichen ca. 90° nach außen, 50° nach innen über die Nase, 50° nach oben und 70° nach unten. Die Gesichtsfelder beider Augen überlappen sich großteils. Gesichtsfeldausfälle kommen bei vielen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen vor. Bei Raumwahrnehmungsstörungen werden die Informationen aus den Gesichtsfeldern nicht verarbeitet und zeigen das Bild des Neglekts = Vernachlässigung. Kinder mit Neglekt haben keine Aufmerksamkeit für einen Teil ihres Gesichtsfeldes. 4.2.5 Kontrastsehen Kontrasttests weisen die Unterscheidungsfähigkeit feiner Grautöne und Schattierungen nach (wichtig bei der Erkennung von Mimik und Alltagssituationen). Abb. 44: Lea-Kontrasttest Hiding Heidi: Stilisiertes Gesicht in verschiedenen Kontraststufen Abb. 45: Lea-Kontrasttest LH Symbole: Haus, Kreis, Apfel und Viereck in verschiedenen Kontraststufen 4.2.6 Farbsehen Mit Farbtests wird das Erkennen und Differenzieren von Farben evaluiert. Abb. 46: LEA Farbpuzzle: LH-Symbole in den Farben orange, blau, gelb und rot auf grünem Hintergrund. Abb. 47: LEA Panel 16 Test: 16 Farbklötze müssen in einer Pastell-Farbreihe (ähnliche Farben) von blau über grün, gelb und rot aneinandergereiht werden. 4.2.7 Augenstellung, Augenbeweglichkeit, beidäugiges Sehen Parallelstand der Augen bei Fixation in der Ferne (Tafel), Konvergenz in der Nähe (Heft) und symmetrische Augenbewegungen in alle Richtungen erfordern ein perfektes motorisches Zusammenspiel aller zwölf Augenmuskeln an beiden Augen. Das Gehirn fusioniert die Bilder beider Augen zu einem einzigen Seheindruck und liefert die Basis für dreidimensionales Sehen. Störungen müssen soweit als möglich behoben werden. Schielen und reduziertes beidäugiges = räumliches Sehen ist ein häufiger Befund bei kindlicher Sehbehinderung. Für die Untersuchung der Augenstellung und -beweglichkeit und auch der Akkommodation ist relativ wenig Mitarbeit des Kindes erforderlich. Das Kind muss nur kurzfristig optisch attraktive Objekte fixieren. Ob das Kind zur Fusion der Bilder beider Augen fähig ist und dreidimensionales = beidäugiges Sehen besitzt, erfordert subjektive Angaben des Kindes. 4.2.8 Vordere und hintere Augenabschnitte Die Beurteilung der vorderen Augenabschnitte, der Pupillenreaktion und des Augenhinter-grundes differenziert Erkrankungen oder Fehlbildungen der einzelnen Augenanteile von Wahrnehmungsstörungen. Sind diese unauffällig, wird die Ursache der Sehbehinderung in der weiteren cerebralen visuellen Verarbeitung liegen. 4.2.9 Elektrophysiologische und neuroradiologische Untersuchungen Besteht der Verdacht auf Schädigungen des Gehirns können weitere Untersuchungen notwendig werden. Visuell evozierte Potentiale messen die elektrischen Ströme in der Sehbahn während das Kind ein Schachbrettmuster beobachtet. Eine Differenzierung zwischen Sehbahnschädigung und CVI ist möglich. Schichtaufnahmen des Gehirns mit der Magnetresonanztomografie zeigen Fehlentwicklungen, erhöhten Hirndruck oder nach Sauerstoffmangel abgestorbene Hirnareale an. 4.2.10 Befund All diese Untersuchungen erfordern bei Kindern mit organischen Sehbehinderungen bzw. cerebralen visuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen mehrere Untersuchungs-termine und können erst bei wiederholter Begutachtung richtig eingeschätzt werden. Damit augenärztliche und orthoptische Befunde in entsprechende pädagogische Konzepte umgesetzt werden können, müssen schriftliche Befundberichte klare Angaben über die Sehfunktionen und die Auswirkung einer Sehbehinderung auf den Schulalltag beinhalten. Damit kann das Kind bestmöglich im Netzwerk aller pädagogisch/therapeutischer Berufsgruppen betreut werden. LITERATUR Bals, I. (2009): Zerebrale Sehstörung. Begleitung von Kindern mit zerebraler Sehstörung in Kindergarten und Schule. Aus dem Niederländischen von Heinz Graumann. Würzburg: Edition Bentheim. Dik, M. 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(2014): Wenn die Wahrnehmung durcheinander gerät. Entwicklung von Fördermaßnahmen für Kinder mit Cerebraler Visueller Informationsverarbeitungsstörung. Interner Forschungsbericht zum Projekt, Graz: PH Steiermark. Kerkhoff, G. (2006): Störungen der visuellen Raumwahrnehmung und Raumkognition. In: Hartje, W. & Poeck, K. (Hrsg.): Klinische Neuropsychologie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag. Lang, M., Hofer, U. & Beyer, F. (2008): Didaktik des Unterricht mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. Band 1: Grundlagen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. Mundhenk, S. (2008): Die Schleswiger Seh-Kiste zur Beobachtung des funktionalen Sehens von Kindern und Jugendlichen unter der Fragestellung von CVI (Cerebral Visual Impairment). Eine Material- und Ideensammlung für den pädagogischen Alltag. Würzburg: Edition Bentheim . Niedeggen, M. & Jörgens, S. (2005): Visuelle Wahrnehmungsstörungen. Göttingen: Hogrefe. Walthes, R. (2014): Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung. München: Ernst Reinhard Verlag. Walthes, R. (2013): Sehen - Andersehen - Nichtsehen? Zur Bedeutung des Sehens und der visuellen Wahrnehmung für Entwicklung und Lernen. Frühförderung interdisziplinär, 32, 131-138. World Health Organization (2011): ICF-CY Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG. Zihl, J., Mendius, K., Schuett, S. & Priglinger, S. (2012): Sehstörungen bei Kindern. Visuoperzeptive und visuokognitive Störungen bei Kindern mit CVI. Wien. New York: Springer Verlag. INTERNETVERWEISE: Organisationen: Elternselbsthilfe sehgeschädigter Kinder: http://www.esh.at Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik Österreichs: http://www.vsbp.at/ Blinden- und Sehbehindertenverband Österreichs: http://www.blindenverband.at/ Verband der Orthoptistinnen und Orthoptisten Österreichs: http://www.orthoptik.at/ http://www.kinder-mit-cvi.de Didaktikpool: http://www.isar-projekt.de/didaktikpool.html Hilfsmittelfirmen: http://www.tsb.co.at/ http://www.baum.at/ http://www.incobs.de/ http://www.caretec.at Zentren und Schulen: Übersicht: http://www.cisonline.at/index.php?id=162 Burgenland: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik Stegersbach http://www.avin.at/spz-stegersbach/ Niederösterreich: Inklusiv- und Sonderpädagogik Niederösterreich http://spz.noeschule.at/index.php?option=com_content&task=view&id=78&Itemid=75 Oberösterreich: Landeszentrum für Hör- und Sehbildung http://www.lszhs.eduhi.at/index.php?id=412 Kärnten Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik für sehbehinderte und blinde Kinder http://cisonlinearchiv.eduhi.at/html/spzsehblind.htm Salzburg: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik für sinnesbehinderte Kinder http://www.spz-sinnesbehinderte.salzburg.at/ Steiermark: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik Odilien-Institut http://www.odilien.at/ Tirol: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik für blinde und sehbehinderte Kinder http://www.spz-sbk.tsn.at/ Vorarlberg: Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik, Landeszentrum für Sehförderung und Blindenpädagogik http://www2.vobs.at/spz-hohenems/index.html Wien: Bundes-Blindenerziehungsinstitut http://www.bbi.at/ Schule für sehbehinderte Kinder Wien http://zinckgasse.schule.wien.at/ Kontaktpersonen der Bundesländer unter http://www.cisonline.at/foerderschwerpunkte/sehen/sehen-expertinnengruppe/ Das Redaktionsteam Dipl.-Päd.in Gertrude Jaritz, BEd ZIS Odilien-Institut Graz und PH Steiermark gertrude.jaritz@phst.at, www.gerti-jaritz.at Mag.a Birgit Schloffer, BEd ZIS Odilien-Institut Graz www.odilien.at Dipl.-Päd.in Judith Kowal, MPOS Bundes-Blindenerziehungsinstitut Wien www.bbi.at Dipl.-Päd.in Karin Trifinopoulos, BEd Sehbehindertenpädagogin im mobilen Dienst, NÖ 0237190@schule-noe.at Dr.in Hildegard Gruber, Oberärztin Abteilung für Augenheilkunde und Orbitachirurgie Landesklinikum St. Pölten - Lilienfeld Drs. Marjolein Dik, Neuropsychologin Royal Visio Amsterdam www.marjoleindik.com Wir bedanken uns bei allen Schülerinnen und Schülern und bei allen Menschen von denen wir über CVI lernen durften.